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Die letzte Kolonie

Titel: Die letzte Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Scalzi
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Sprechenden selbst bewusst waren, Rhythmus und Intonation, und all das ermöglichte mir, wie in einem aufgeschlagenen Buch in ihnen zu lesen. Wie in einem Buch, dessen Botschaft nicht im Text, sondern in den Fußnoten steht. Eine Bibliothek der menschlichen Erfahrungen.
    Es beanspruchte Zeit, die Sprache zu übersetzen, und ich glaube nicht, dass ich sie gänzlich beherrsche. Es wird nie meine Muttersprache sein. Aber ich höre gut genug zu, um die Sprechenden in einem neuen Licht zu sehen, und erneut empfinde ich Mitleid für jene, die laut sprechen. Nicht weil sie so langsam sprechen, sondern weil so viele taub gegenüber dem sind, was sie sagen. Wenn sie hören könnten, was ich höre, würden sie staunen.

    Meine Muttersprache ist keine gesprochene Sprache, sondern das Aufblitzen von Neuronen, das von Maschinen statt von Muskeln dekodiert und übermittelt wird. Dennoch ist es meine Sprache: meine Landkarte, mein Fenster, meine eigene Welterkenntnis. Ich kehre ihr den Rücken zu, um mit dir zusammen zu sein. Ich bin eine Immigrantin, deren ursprüngliche Sprache nicht nur ungenutzt bleibt, sondern amputiert wurde. Die Teile von mir, mit der ich sie gesprochen habe, werde ich aufgeben, und so wie ich sein werde, kann ich sie gar nicht mehr sprechen, nicht einmal in der Stille meines Geistes.
    Du ahnst nicht, wie sehr mich das beunruhigt. Es geht nicht darum, dass ich eine Sprache benutzen muss, die ich liebe und gerne höre, auch wenn ich sie nur unvollkommen beherrsche. Mit der Zeit werde ich sie immer besser sprechen. Mir macht Sorge, dass mein Wesen auf meiner ursprünglichen Sprache
basiert, dass ich von meinen Worten und meiner Sprechweise geformt wurde, und dass ich durch die Amputation in dem, was mich ausmacht, reduziert werde, bis ich zu etwas anderem werde als das, was ich bin und was ich für dich bin.
    Ich tue etwas Neues. In meinem Geist halte mich mich an mir selbst fest – an der, die ich war, und an der, die ich sein werde – wortlos und schweigend. Keine Beschreibung, die sich in ein gesprochenes oder gesendetes Vokabular übertragen ließe, sondern eine Sicht auf mich selbst, die von Kommunikation, Übersetzung oder Amputation unbehelligt bleibt. Wenn ich zu deiner Welt reise, werden meine Gedanken von mir selbst erfüllt sein, die Parameter meines Charakters und meiner Mängel und Wünsche bleiben stumm, und dadurch bleiben sie ganz. Und wenn ich zu dir geschickt werde, werde ich die sein, die ich war und die ich bin, sodass ich die werden kann, die ich mit dir werden will.
    Ich weiß, dass du es mir nicht verübeln wirst, dass du willst, dass ich selbst entscheide, wie ich mich am besten bewahren kann. Aber du sollst wissen, dass, wenn ich mich in meinen Gedanken bewahre, um wieder ich selbst werden zu können, die Version von mir, die sich an sich selbst festhält, in ihren Gedanken dich festhält. Sie hält dich wortlos – den, der du warst, und den, der du bist, und den, der du mit ihr sein wirst. Sie hält dich ohne Worte oder Sprache und sehnt sich danach, deinen Namen auszusprechen.

4
Freundschaft
    Am Tag, als ich meinen Freund tötete, stand ich früh auf. Ich wusste, wenn ich ihn töte, musste ich bereit sein, durfte nicht zögern oder mich von seinem Leiden rühren lassen. Ich musste schnell und sicher zuschlagen, und darauf sollte ich vorbereitet sein. Ich musste mich nicht stählen, sondern musste nur stark genug sein, um offen zu bleiben, um seinen Schmerz nicht distanziert, sondern mitfühlend einzuschätzen, um genau in dem Moment zuzuschlagen, wenn das Gleichgewicht zwischen seinem Willen und seinem Leiden unwiderruflich zu seinen Ungunsten kippte. Ich musste ihm erlauben, dagegen zu kämpfen, aber nicht sinnlos zu kämpfen. Ich sollte seinen letzten Augenblick ehren, indem ich einschätzte, wann es so weit wäre, das zu tun, wozu er nicht mehr fähig wäre, und ihm die Ehre zu erweisen, die er von mir und für sich erwarten konnte. Ich stand früh auf und verbrachte den Tag schweigend, und als ich bereit war und die Zeit gekommen war, nahm ich mein Messer und ging zu ihm.
    Er öffnete mir nicht, denn dazu war es bereits zu spät. Seine Krankheit war unbehandelt und uneingedämmt, sie sandte Nervenimpulse in sein wundes Fleisch, in dem die Muskeln zuckten und jeden Ansatz von Kontrolle unmöglich machten. Ein Freund ließ mich eintreten und führte mich zur schlichten Matte auf dem Boden, wo unser Freund saß und zitterte. Ich ging vor meinem Freund in die Knie und begrüßte

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