Die letzte Lagune
einen kleinen Pfiff aus. «Da
kann ich Ihnen etwas berichten, das Sie interessieren
wird.»
«Was
denn?»
«Sie sind nicht
der Einzige, der sich für Petrellis Akte interessiert. Ich
empfing vorgestern den Besuch eines Wiener Hofrats. Der Hofrat kam
mit Sondervollmachten, ausgefertigt vom Adjutanten des Kaisers.
Zudem wies mich ein weiteres Schreiben vom kommandierenden General
an, dem Hofrat in jeder Weise entgegenzukommen. Ohne Rücksicht
auf die Dienstvorschriften.»
«Wie hieß
der Hofrat?»
«Lodron.»
«Und was hat er
gewollt?»
«Die
Petrelli-Akte. Er hat die komplette Akte mitgenommen, und ich
sollte sofort eine entsprechende Schwärzung
vornehmen.»
«Sie sollten
was?»
«Den Eintrag in
der Registratur schwärzen», sagte der Leutnant.
«Jede Akte ist mit einem kurzen Eintrag in einer Registratur
erfasst. Lodron wollte, dass die Petrelli-Akte spurlos
verschwindet. Aber das war nicht so einfach, wie der Hofrat
dachte.» Er sah Tron vergnügt an. «Ich habe mich
nach dem Besuch sofort kundig gemacht. Petrelli war anno
neunundfünfzig bei Solferino dabei. Und von den Akten der
damals an der Schlacht Beteiligten gibt es Kopien, die ins
Hauptarchiv nach Wien überführt werden sollen. Das konnte
Lodron nicht wissen.»
«Warum haben Sie
den Hofrat nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass es Kopien
gibt?»
«Weil ich Wiener
Schnösel mit Sondervollmachten nicht ausstehen
kann.»
«Wo sind diese
Kopien?»
«Im
Überführungsarchiv. Im Moment fehlt es an
Transportkapazitäten.»
«Haben Sie
Zugang zu diesem Archiv?»
Leutnant Haeger
grinste. «Ich bin für die Überführung der
Akten zuständig.»
«Können wir
die Akte sehen?»
Das Grinsen des
Leutnants wurde noch breiter. «Sie können sie mitnehmen, Commissario.»
*
Das Abteil erster
Klasse war eiskalt, aber Tron und Bossi mussten es mit niemandem
teilen. Hinter den Scheiben des Coupés zog eine verschneite
Landschaft vorbei, ab und zu waren Hügel, Gehöfte oder
Bäume zu erkennen. Hinter Vicenza wurde es dunkel, und man sah
überhaupt nichts mehr. Tron hatte sich sofort nach der Abfahrt
des Zuges in Verona an die Lektüre der Petrelli-Akte gemacht
und kurz nach Vicenza mit einer zweiten Durchsicht begonnen. Die
Petrelli-Akte war pures Gold. Und im Grunde, dachte Tron,
verdankten sie diesen Schatz einem reinen Zufall. Wären sie
nicht auf dieses ganz spezielle Exemplar eines kaiserlichen
Leutnants gestoßen, dann hätten sie die Rückfahrt
mit leeren Händen antreten müssen. Leutnant Haeger - Tron
musste unwillkürlich lachen. Er nahm sich fest vor, ein paar
Gedichte des Leutnants in der nächsten Nummer des Emporio zu
veröffentlichen. Der Emporio della Poesia hatte die
Beiträge Spaurs überlebt, er würde auch an ein paar
Gedichten Leutnant Haegers nicht zugrunde gehen.
Eine halbe Stunde
später hatte Bossi die Akte ebenfalls zweimal gelesen. Als er
die Lektüre beendet hatte, lehnte er sich erschöpft in
die Polster zurück, schloss die Augen und atmete tief
aus.
Tron lächelte.
«Was meinen Sie, Ispettore?»
«Das ist absolut
erstklassiges Material», sagte Bossi. «Kein Wunder, dass der
Hofrat diese Akte aus dem Verkehr ziehen wollte.»
«Vielleicht hat
er ja mit unserem Besuch gerechnet und Vorkehrungen
getroffen», mutmaßte Tron. «Interessant
dürfte sein, dass er mit Sondervollmachten vom Adjutanten des
Kaisers nach Venedig gekommen ist.»
Bossi nickte lebhaft.
«Aber Sondervollmachten wofür? Geht es wirklich nur um
ein altes Tagebuch, das vor mehr als sechshundert Jahren
geschrieben wurde? Das kann doch nicht alles
sein.»
Tron hob die
Schultern. «Fragen Sie mich bitte etwas Einfaches,
Bossi.»
«Was wissen wir
eigentlich über Lodrons Auftrag hier in
Venedig?»
«Eigentlich nur
das, was uns Flyte berichtet hat», sagte Tron. «Dass
der Hofrat ein massives Interesse an den Tagebüchern hat. Und
jetzt wissen wir, dass der Kaiser höchstpersönlich
dahintersteckt.»
21
Wenn der
Polizeipräsident einer von feindlichen Truppen besetzten Stadt
zu viel Druck auf die Bevölkerung ausübt, dann bringt er
sie unnötig in Rage. Andererseits macht zu viel Nachsicht sie
aufmüpfig. Spaur meisterte diesen heiklen Balanceakt durch
reines Nichtstun. Hatte man ihn in den letzten Jahren jemals vor
dreizehn Uhr in seinem Büro gesehen? Oder beim Aktenstudium
beobachtet? Tron konnte sich nicht daran erinnern. Allerdings war
die Stimmung in der Stadt mäßig revolutionär, denn
es schien einfach sinnlos, sich so kurz vor
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