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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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sich,
sondern eine unauffällige Bahre.
    «Ich gehe
nächste Woche in die Vorstellung», sagte Dr. Lionardo,
nachdem er seine weißen Baumwollhandschuhe angezogen hatte.
Offenbar war er mit seinen Gedanken beim Lohengrin. «Wie
fanden Sie die Elsa?»
    Elsa? Tron, den Blick
auf die Leiche zu seinen Füßen gerichtet, hatte einen
Moment lang Schwierigkeiten, sich an die Handlung der Oper zu
erinnern. Wollte der dottore wissen, was er persönlich von
Elsa hielt - als Mann? Als Mann gefiel sie ihm nicht. Elsa war eine
Nervensäge. «Eher mäßig», erklärte
Tron, nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte.
    «Ich hatte das
Vergnügen», sagte Dr. Lionardo, «den Lohengrin letztes Jahr unter
Bülow in München zu sehen.» Er löste behutsam
die baùta von Marchmains
Gesicht. «Jedenfalls», sprach der dottore weiter, indem er die blutige
Augenhöhle Marchmains betrachtete, «hat er nichts
gemerkt. Nach dem Schuss in die Schläfe dürfte er sofort
das Bewusstsein verloren haben. Wie Lincoln. Der hat allerdings
noch ein paar Stunden gelebt.»
    Ah, wie bitte? Wer
hatte nichts gemerkt? Marchmain oder ein gewisser Bülow? Tron
hatte Schwierigkeiten, den Ausführungen Dr. Lionardos zu
folgen. War Bülow nicht der Dirigent, dem Richard Wagner die
Frau ausgespannt hatte? Aber Lincoln? Wer war das denn
nun?
    «Übrigens
hat Lincolns Mörder eine 44er Derringer benutzt», fuhr
Dr. Lionardo fort. «Möglicherweise also die gleiche
Waffe, die auch unser Mann hier zu bevorzugen
scheint.»
    Jetzt hatte Tron es
begriffen. Dr. Lionardo dachte global. Seine Gedanken rasten
über den Atlantischen Ozean hin und her, wie Nachrichten durch
ein Überseekabel. Offenbar meinte er (gedanklich in Amerika)
das Attentat, das vorletztes Jahr auf den amerikanischen
Präsidenten verübt worden war. Oder war es letztes Jahr
gewesen?
    «Die
Aufführung war hervorragend!», rief Dr. Lionardo (jetzt
gedanklich in München), indem er jede Silbe einzeln betonte
und sogar einen Moment lang schwelgerisch die Augen schloss. Aber
dann war er wieder bei der Sache. «Es wird Zeit», sagte
er (gedanklich in Venedig), «dass Sie den Burschen
erwischen.»
    Der medico
legale erhob sich ächzend und
streifte seine Baumwollhandschuhe ab. «Erst in die
Schläfe, dann ins Auge. Wie bei Petrelli. Wie lange ist das
noch her?» Und dann weiter, ohne eine Antwort abzuwarten:
«Vermutlich hat der Mörder wieder eine Derringer
benutzt. Wie vor ein paar Tagen bei dem ...»
    Tron fiel Dr. Lionardo
ins Wort. «Wie bei dem Anschlag auf Flyte», sagte er.
«Ich weiß. Wir arbeiten auch mit Hochdruck an dem Fall.
Wann habe ich den Sektionsbericht?»
    «Am
Montag», meinte Dr. Lionardo. «Aber erwarten Sie keine
großen Überraschungen.»
    Plötzlich war
gedämpfter Applaus aus dem Foyer zu hören, der dann ein
wenig lauter wurde, als die Logenbeschließer die Türen
zum Zuschauerraum öffneten. Tron seufzte. Er hatte gehofft,
dass das Foyer noch weitgehend leer sein würde, wenn der
Abtransport der Leiche erfolgte. Die beiden Träger legten
Marchmain auf die Bahre und breiteten wieder das Tischtuch
über seinen Körper. Dann hoben sie die Bahre vorsichtig
an und setzten sich in Bewegung. Sie benutzten die Tür, die
direkt ins Foyer führte - den Zugang, durch den Marchmain
gekommen war, um hier seinen Mörder zu treffen. Tron sah den
beiden Trägern nach, wie sie die Bahre durch das Foyer trugen,
in das jetzt die Zuschauer strömten, um sich an Knarzens
   
    Cliao zu laben. Tron
bezweifelte, dass irgendjemand Notiz von den beiden
Bahrenträgern nahm. Und wenn, dann würde man sich
amüsiert zunicken. Wieder mal ein kleiner Herzinfarkt in einer
Loge oder im Parkett - na bitte. Richard Wagner war dafür
bekannt, dass seine Musik extreme Reaktionen
auslöste.

31
    Tron würde
Marchmains sala nicht wiedererkannt haben, wenn er
nicht gewusst hätte, dass er sich im Palazzo Zafon befand. Ein
schwarzgekleidetes Dienstmädchen - selbst ihre Haare waren
rabenschwarz - hatte ihn durch das Treppenhaus in die sala geführt und ihm
angekündigt, dass die Signorina und der Signore gleich zu ihm
kommen würden. Jetzt stand Tron - die Teppiche waren entfernt
worden - auf dem nackten Terrazzofußboden und bestaunte die
Veränderungen, die in erstaunlich kurzer Zeit an der sala vorgenommen worden
waren. Ihm war kalt, denn offenbar hatte man, mit Rücksicht
auf die spezielle Benutzung des Raumes in den nächsten Tagen,
die beiden großen Öfen des Ballsaals kaum beheizt.
Graues Winterlicht fiel

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