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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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gehabt,
ein paar Minuten auf den Traghetto zu warten. Die Front des
Seminario, stellte er fest, hatte einen frischen Anstrich, und da
anzunehmen war, dass man die Malerarbeiten nicht über Nacht
durchgeführt hatte, musste er das Gerüst vor der Fassade
ein paar Wochen lang übersehen haben. Was aber, sagte er sich,
in diesem Fall wohl darauf zurückzuführen war, dass er
das Seminario immer verabscheut hatte und später
mied.
    Der Platz vor dem
Seminario war sorgfältig gefegt worden, auf einem breiten
Streifen, der auf die große Eichentür zuführte,
hatte man sogar Sand gestreut. Tron drückte die bronzene
Klinke herab, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür und
hatte, als ihm der altvertraute Geruch von Weihrauch, billiger
Holzkohle und angebrannter Polenta entgegenwehte, plötzlich
eine Erinnerung von so großer Klarheit, dass das halbe
Jahrhundert, das inzwischen vergangen war, auf ein paar Augenblicke
zusammenschnurrte. Er schloss unwillkürlich die Augen und sah
den zehnjährigen Alvise Tron - etwas klein und dünn
für sein Alter -, wie er seine rechte Schulter mit aller Kraft
gegen die schwere Eichentür presste, denn unter
seinen linken Arm hatte er die mit einem Lederriemen
zusammengebundenen Schulbücher geklemmt. Der kleine Alvise
trug einen schwarzen Gehrock aus Tuch, einen Hut nach Art der
Priester und einen Halskragen - die damals obligatorische
Bekleidung der Seminaristen, denn ursprünglich war das
Seminario Patriarchale nur für zukünftige Priester
vorgesehen gewesen. Mein Gott, wann hatte er das Gebäude zum
letzten Mal betreten? Es konnte nur am Tag seiner
Abschlussprüfung gewesen sein, irgendwann Ende der zwanziger
Jahre.
    Jedenfalls war der
Eingangsflur genauso dunkel wie in alten Zeiten. Die Ölfunzel,
die damals an der Decke gehangen hatte, war zwar durch eine moderne
Petroleumlampe ersetzt worden, aber Trons Augen brauchten immer
noch ein paar Augenblicke, um sich an das Dämmerlicht zu
gewöhnen. Seltsam waren nur die Totenstille im Gebäude
und der Umstand, dass weit und breit niemand zu sehen war. Tron
versuchte vergeblich eine Erklärung dafür zu finden, bis
ihm schließlich einfiel, dass alle Schulen seit einer Woche
geschlossen waren, weil nicht mehr genug Holz zum Heizen der
Klassenräume zur Verfügung stand.
    «Posso
aiutarla, Signore?»
    Am Fenster der
Pförtnerloge war plötzlich der Kopf eines Mannes
erschienen, der ihn misstrauisch musterte. Tron erklärte sein
Anliegen und wurde ein paar Minuten später von einem jungen
Priester in einen Raum im zweiten Stockwerk geführt und
gebeten, dort auf den Monsignore zu warten. Tron nahm Platz, und
als sich die Tür hinter dem Priester geschlossen hatte,
stellte er plötzlich unangenehm berührt fest, dass er
diesen Raum gut kannte. Da war der große Schreibtisch auf dem
grauen Terrazzoboden, die kahlen Wände, die Aktenschränke
und das Regal, auf dem sich die Schulhefte stapelten. Kein Zweifel,
er saß im Zimmer des Direktors. Als er den an das Regal
gelehnten Rohrstock entdeckte, überkam ihn zum zweiten Mal ein
Schwall von Erinnerungen. Er schloss die Augen und sah sich, wie er
mit nach vorne gestreckten Armen vor dem Direktor stand, um wegen
irgendeines geringfügigen Vergehens die üblichen
Schläge auf die geöffneten Handflächen zu empfangen,
manchmal zehn hintereinander. Der Direktor hatte diese Bestrafung
jedes Mal genossen, und Tron hatte ihn dafür gehasst. Ob
solche Strafen heute immer noch praktiziert wurden? Vermutlich,
denn die heilige Kirche liebte Veränderungen nicht. Tron
schlug seine Augen wieder auf und sah ohne Überraschung, dass
sich im Direktorenzimmer nichts Wesentliches geändert hatte.
Nur dass anstelle eines Kupferstiches des damaligen Papstes jetzt
eine Lithographie von Pio Nono an der Wand hing. Auch jemand,
dachte Tron, der sich erbittert gegen die italienische
Einheitsbewegung sträubte. Und während er noch
darüber nachdachte, wie sich seine eigene Position von der des
Papstes unterschied, ging die Tür auf, und Contarini betrat
das Zimmer.
    Entweder hatte
Contarini keine Zeit, oder er hatte keine Lust auf den
üblichen Austausch von Begrüßungsfloskeln. Er
lächelte auch nicht höflich, sondern strich lediglich den
Ärmel seiner Soutane glatt, der bereits glatt war. Tron fiel
auf, dass er einen Siegelring am Mittelfinger seiner rechten Hand
trug.
    Contarini kam sofort
zur Sache. «Wie kann ich Ihnen helfen, Commissario?»
Das klang nicht so, als würde er seinem Besucher gerne
behilflich

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