Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
werden und sich am Riemen zu reißen. Ihren ersten Job fand sie in einem Reisebüro in der Innenstadt und das Erste, was sie dort lernte, war, dass sie außergewöhnlich gewitzt war, was ihr auf der Highschool allerdings nie jemand gesagt hatte. Zwei Wochen nachdem sie dort angefangen hatte, wurde sie von ihrem Chef befördert. Wahrscheinlich wäre sie heute Geschäftsführerin oder in einem anderen Laden, hätte ihr Onkel, ein pensionierter Verkehrspolizist, sie nicht überredet, die Polizeiprüfung zu machen.
O’Hara klappert mit dem Eis in ihrem letzten Drink und fragt sich, ob sie sich während der vergangenen achtzehn einigermaßen anständig verbrachten Jahre nur etwas vorgemacht habe. Vielleicht hatte Lowry, dieser arrogante Arsch, Recht und sie war im Grunde immer noch dieselbe hoffnungslose Versagerin, zu der man sie mit sechzehn erklärt hatte. Vielleicht hatte sie ihren »Zerstörungswahn« nie richtig befriedigt und jetzt genügte der kleinste Anlass, um sie aus der Bahn zu werfen.
Andererseits aber hatte sie womöglich nur zu viel unter dem Deckel gehalten und das Einzige, was ihrem Leben fehlte, war eine gute Portion Rock. Am hinteren Ende der Bar neben der Tür hängt ein Poster mit dem berühmten Foto des 32-jährigen Keith Richards, auf dessen T-Shirt steht: Who the fuck is Mick Jagger? Ohne den Stones oder Sir Mick zu nahetreten zu wollen, hat O’Hara eine sehr viel naheliegendere Frage: Who the fuck is Darlene O’Hara?
22
Unter glücklichen Umständen würde man wohl kaum auf die Idee kommen, eine frische Packung Advil-Schmerztabletten anzubrechen. Mit einem Kater allerdings, wie er O’Hara nach dem Aufwachen am späten Sonntagmorgen überfällt, wird das Unterfangen zu einer entsetzlichen Geduldsprobe. Als es O’Hara endlich gelungen ist, die Schachtel aufzureißen, die Plastikkappe abzunehmen, die Aluminiumfolie durchzustechen und das letzte Fitzelchen des Baumwollstöpsels zu entfernen, ist sie froh, dass ihr Dienstrevolver weit weg im Schlafzimmer liegt. »Fühl mich immer noch scheiße, Sarge«, spricht sie Callahan auf die Mailbox, nachdem sie eine Handvoll Pillen geschluckt hat. »Muss wohl die verfluchte Grippe sein.« Der Anfang entsprach zweifellos der Wahrheit, der zweite Teil ihrer Nachricht klingt dagegen eher unwahrscheinlich. O’Hara hofft, dass ihr unnötig drastisches Verflucht sie nicht verraten wird. Hätte sie nicht einfach nur »die Grippe« sagen können? Nein, es musste »die verfluchte Grippe« sein. Zum Glück ist Callahan kein besonders begabter Detective. Weshalb er ja auch Sergeant wurde.
Kapseln und Kaffee räumen gerade genug in O’Haras Kopf auf, dass sie in der Lage ist, einen Arbeitsplan zu erstellen. Wenn der Killer Pena so gut kannte, dass er von ihrer Tätowierung wusste, musste O’Hara noch sehr viel mehr über Pena erfahren, um ihn ausfindig zu machen. Eine Tätowierung lässt sich herausschneiden, aber sämtliche Spuren einer persönlichen Biografie lassen sich nicht entfernen. Wenn O’Hara nur gründlich genug alles durchging, würde sie früher oder später unweigerlich auf ihn stoßen. Sie räumt ihren Küchentisch frei und durchpflügt die in sechs Tagen liegen gebliebenen Zeitungen, schneidet jeden Artikel über den Mordfall aus und notiert sich die Namen aller Personen, die irgendetwas dazu zu sagen hatten.
In zwei Artikeln wird eine gewisse Dr. Deirdre Tomlinson zitiert, stellvertretende Verwaltungsdirektorin an der NYU. O’Hara ruft in ihrem Büro an. Sie erwartet am Sonntagnachmittag einen Anrufbeantworter am anderen Ende, wird aber von einem schwungvoll theatralischen »Tomlinson am Apparat!« überrascht. Obwohl sich Tomlinson gerade auf den Heimweg machen wollte, erklärt sie sich bereit, in ihrem Büro auf O’Hara zu warten. Aufgrund ihrer beeindruckenden Telefonpräsenz stellt sich O’Hara eine klassische Matrone vor, doch die Frau, die sie in der Belle Etage eines Stadthauses am Washington Square North empfängt, ist spindeldürr und höchstens Ende dreißig. Ihre langen dünnen Beine stecken in kniehohen Reiterstiefeln und verschwinden unter einem schicken Tweedrock. »Condoleeza Rice mit Afro« ist die unvorteilhafte Beschreibung, die O’Hara als Erstes durch den Kopf schießt.
»Francescas Tod ist eine Tragödie für ihre Familie und eine Katastrophe für die Universität«, sagt Tomlinson und führt O’Hara zu einem Stuhl mit hoher Lehne gegenüber des Schreibtischs. »Außerdem handelt es sich um einen ausgesprochen
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