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Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)

Titel: Die letzte Lüge: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter de Jonge
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abgelöst worden, die nicht annähernd über so viel Geld verfügen, dafür aber über umso mehr Zeit. Die meisten in der Nähe der übelriechenden Hundestrecke bewegen sich hart an der Grenze zum Wahnsinn. O’Hara macht einen Bogen um die kleinkriminellen Dopedealer, holt sich bei Starbucks einen Riesenbecher Kaffee und betritt die Elmer Bobst Library, das Backsteingebäude im Südosten des Platzes. Die Galerien über dem vierzehn Stockwerke tiefen Lichthof gehören zu den beliebtesten Absprungstellen für lebensmüde Studenten: zwei Selbstmorde in den vergangenen fünfzehn Monaten. Und während O’Hara über den schachbrettgemusterten Marmorboden schreitet, der auf labile Gemüter angeblich hypnotisierend wirkt, fällt ihr auf, dass inzwischen Plexiglasscheiben angebracht wurden, um selbstmörderische Pläne zu vereiteln. Nachdem sie sich als Polizistin ausgewiesen hat, lässt sie sich von einem Angestellten darüber aufklären, dass sich die Lesesäle in den Stockwerken mit geraden Nummern befinden. Sie steigt im zwölften Stock aus dem Fahrstuhl und setzt sich an einen freien Mahagonitisch, stellt ihren Kaffee vorsichtig auf den Teppich neben ihre Füße. Die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen, sind nach Norden ausgerichtet und eröffnen den Blick über den Park Richtung Stadtmitte. Ganz unten kann sie zwischen den blattlosen Ästen hindurch den Schotter auf den Gehwegen erkennen. Da unten läuft ein Penner manisch im Kreis. Der Abstand von zwölf Stockwerken lässt seine Schizophrenie wie Modern Dance wirken. Zu ihrer Rechten befindet sich ein Regal mit Unterlagen zum britischen Sklavenhandel von 1866 bis 1877. Am Eingang steht die gusseiserne Büste eines toten Mannes mit viel Geld, der Charles Winthrop hieß und diesen Saal offensichtlich finanziert hat. O’Hara hat ihren Hochschulabschluss mit knapper Not geschafft und seither mehr Zeit in Kneipen als in Bibliotheken verbracht. Das könnte sich allerdings schon bald ändern, denn die Ruhe, Stille und ausgezeichnete Beleuchtung empfindet sie als äußerst ansprechend. Und das nicht nur, weil sie verkatert ist. Während sich ihre jungen, betuchten Nachbarn gegenseitig SMS und E-Mails schicken, illegal Musik aus dem Internet herunterladen und sich um ihre Treuhandfonds kümmern, stellt O’Hara ihr Telefon auf »lautlos«, nimmt einen großen Schluck Kaffee und schlägt die erste Mappe auf. Schon bald ist sie die einzige Person im Raum, die sich aufs Lesen konzentriert.
    Penas Bewerbung enthält die Eckdaten eines zweigeteilten Lebens, dessen Phasen sich ebenso stark voneinander unterscheiden wie die beiden Hälften ihres Körpers. Die ersten zwölf Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Chicago, die darauffolgenden sechs in einer Kleinstadt in Neuengland. In einem beiliegenden Aufsatz erklärte sie, wie es dazu gekommen war. In blauer Schreibschrift, grob und ungelenk für eine Schülerin im letzten Jahr der Highschool, berichtete sie, ihr Vater Edwin Pena sei als langjähriger Junkie, der seine Heroinsucht endlich besiegt hatte, HIV-positiv getestet worden und drei Jahre später an einem wolkenlosen Frühjahrsmorgen gestorben. Und so wie O’Hara nach dem frühen Tod ihres Vaters, rastete auch die zwölfjährige Pena erst einmal aus. Sechs Monate später landete sie in einem Erziehungsheim für verhaltensauffällige Teenager. Jeder Morgen begann mit einem Lauf über drei Kilometer, so dass Pena ihre Begabung für den Ausdauersport entdeckte. Penas Mutter kannte eine Frau, eher eine Bekannte als eine Freundin, die nach Westfield, Massachusetts, gezogen war und beschloss in jenem Herbst, das alte Viertel zu verlassen. Mutter und Tochter brachen sämtliche Zelte ab. Die einzige Verbindung zwischen Penas beiden Leben war ihr neuer Sport. Bei den ersten drei Wettkämpfen an ihrer neuen Highschool kam Pena als elfte, fünfte und dritte ins Ziel. Das Selbstbewusstsein, das sie auf der Aschenbahn sammelte, nahm sie auch ins Klassenzimmer mit. Zwei Jahre später war aus dem Ghettomädchen eine studierende Athletin geworden, die ein Stipendium an einer angesagten Mädchenschule namens Miss Porter’s bekam. Am Ende des Aufsatzes erklärte Pena, ihre eigenen Erfahrungen hätten ihr Interesse für das frühe Jugendalter geweckt, besonders jene kurze Zeitspanne, in der leicht beeinflussbare junge Menschen ebenso leicht untergehen wie aufsteigen können. O’Hara weiß, dass Hochschulanwärter bereit sind, alles Mögliche zu sagen oder zu schreiben, wenn sie

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