Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
glauben, deshalb am College angenommen zu werden. Sie sind schlimmer als Betrunkene, die Frauen abschleppen wollen. Aber Pena schien es wirklich ernst damit zu sein. Obwohl ihre Noten nicht so gut waren wie O’Hara von einer potentiellen Rhodes-Stipendiatin erwartet hätte – eine Eins minus, vier Zweien und sogar eine Drei -, gehörten sechs der zwölf Seminare, die sie an der NYU belegt hatte, in den Fachbereich Psychologie. Ihrem Schreiben war ein Antrag für ein Forschungsprojekt angehängt, der bereits bewilligt worden war. Das Projekt baute auf ihrer freiwilligen Arbeit als Mentorin zweier gefährdeter dominikanischer Schwestern im Alter von dreizehn und elf Jahren auf, die wie sie Töchter eines ehemals heroinabhängigen Elternteils waren. Anscheinend war Pena ein Mädchen mit Mission gewesen. Eine der wenigen Studentinnen, die auf dem Campus eintreffen und ganz genau wissen, was sie vorhaben, und es anschließend durchziehen. Aber O’Hara weiß auch, dass kaum etwas je so klar ist, wie es einem eigensinnigen Teenager erscheint. Nicht jeder lässt sich retten oder will gerettet werden. Immer wieder müssen Missionare diese Erfahrung machen und manchmal kostet es sie das Leben.
Während O’Hara noch über die Tragweite von Penas sehr zielorientierter Bewerbung und ihres Aufsatzes nachdenkt, durchbricht ein ganz besonders nerviger HipHop-Klingelton die Stille. Ein Student an einem der Tische nebenan lässt sich viel zu lange Zeit, sein Handy lässig aufzuklappen. »Was’ los, Alter?«, fragt er. O’Hara, die sich zu ihrer eigenen Verwunderung aufgefordert fühlt, die dem Gedankenfluss förderliche Stille im Saal des alten Winthrop zu verteidigen als wäre es ihr eigener, beugt sich vor und flüstert: »Keine Telefonate in der Bibliothek.«
Unglücklicherweise wird O’Haras respektvoll geäußerte erste Ermahnung ebenso ignoriert wie die zweite. Und als sie mit ihrer dritten Beschwerde abfälliges Abwinken erntet, steht sie leise auf und geht an den Nachbartisch, wo der Student, der ungefähr so alt ist wie Pena, noch immer seinen Kumpel durchs Telefon ankläfft. Als er sich die Mühe macht, unter seiner grauen Filzmütze hervorzulugen, erstaunt ihn der Anblick der schönen Rothaarigen, die ihm gegenüber Platz genommen hat. O’Hara starrt ihm direkt in die Augen und lächelt. Dann öffnet sie ihren Mantel und fordert ihn mit einer Handbewegung auf, hinzusehen. Jetzt entdeckt er die goldene Dienstmarke, die an der Innentasche feststeckt und direkt darunter den schwarzen Gummigriff der.45, der aus dem Lederholster lugt. »Keine Scheißtelefonate in der Bibliothek«, flüstert sie noch einmal, was zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr nötig gewesen wäre, und kehrt der Winthrop-Büste zunickend an ihren Tisch zurück.
Als O’Hara schließlich aus dem Lesesaal im zwölften Stockwerk herunterfährt, sind die Laternen im Park hell erleuchtet. Bei einem Kontrollblick auf ihr Handy entdeckt sie drei zunehmend dringlichere Nachrichten von Tomlinson. Die Anruferin wirkte beim dritten Versuch fast ebenso durchgedreht wie der Klapsenpatient, der noch immer seine Runden in der zunehmenden Dämmerung dreht. In einem Anfall von Schwäche geht O’Hara außen um den Park herum und drückt Tomlinson die Aktenordner direkt in die dürren Ärmchen. Die stellvertretende Verwaltungsdirektorin wäre wahrscheinlich weniger erleichtert gewesen, hätte sie gewusst, dass der Aktion ein kurzer Abstecher in den Copy-Shop vorausgegangen war.
23
In der 106th Street zwischen Broadway und Amsterdam lassen sich gleichzeitig gegenläufige Entwicklungen beobachten: Karibische Kindermädchen schieben Kinderwagen im Wert von 1200 Dollar in westlicher Richtung in die Biosupermärkte und junge Mütter zerren Kleinkinder in der entgegengesetzten Richtung zu den Sozialwohnungen. Es ist kein Geheimnis, wie das Rennen ausgehen wird. Schon bald werden die einzigen dunkelhäutigen Babys in diesem Viertel adoptierte Kinder aus Haiti und Äthiopien sein. Aber im Moment sind die Mieten gerade noch niedrig genug, so dass sich Big Sisters hier ein Ladenlokal leisten können. Das Schild am Eingang besagt, dass auch sonntags geöffnet ist. Doch als O’Hara vorfährt, ist es schon zu spät. Die kosmische Strafe dafür, dass sie die ganzen Unterlagen fotokopiert hatte. Obwohl der Laden geschlossen ist, dringt noch genug Licht von der Straße hinein, dass sie erkennen kann, wie provisorisch das Projekt geführt wird. Drinnen stehen nur zwei alte
Weitere Kostenlose Bücher