Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
schweren persönlichen Verlust. Wenn es etwas gibt, das ich oder die Universität tun können …«
Trotz ihres verhältnismäßig geringen Alters besitzt Tomlinson ein riesiges Büro. Es ist mit einer beeindruckenden Auswahl an afrikanischem Kunsthandwerk geschmückt. Als Tomlinson sieht, wie O’Haras Blicke von einem Gegenstand zum nächsten wandern, gibt sich die ehemalige Literaturprofessorin gönnerhaft belehrend: »Das ist eine Fotografie von Irving Penn, sie wurde vor zwanzig Jahren aufgenommen und zeigt eine wunderschöne Kenianerin. Die kleinen Statuetten auf dem Regal stammen aus Äthiopien und wurden, ob Sie’s glauben oder nicht, aus Kuhdung hergestellt. Die Collage ist natürlich von Ramare Bearden, einem unserer größten, leider bereits verstorbenen Künstler. Sie ist selbstverständlich Eigentum der Universität, aber ich habe das Glück, sie täglich bestaunen zu dürfen.«
Kuhdung, das trifft es ungefähr, denkt O’Hara und strengt sich an, nicht versehentlich die Augen zu verdrehen. »Klingt, als hätten Sie das Opfer gut gekannt«, sagt sie.
»Ich habe sie an die NYU gebracht. Der Dekan ihrer alten Schule machte mich bereits sehr frühzeitig auf Francesca aufmerksam und ich habe sie dort und auch zu Hause in Westfield besucht.«
»Verwenden Sie auf alle Bewerber so viel Zeit und Mühe?«
»Wohl kaum. Aber Francesca war eine außergewöhnliche junge Frau und das ist nicht nur der NYU aufgefallen. Wir mussten Stanford, die Duke University und die Hälfte der Ivy-League-Hochschulen aus dem Feld schlagen. Mehr als die Hälfte.«
Während Tomlinson über Penas verlorenes Potential schwadroniert, betrachtet O’Hara noch einmal die eleganten Schwarz-Weiß-Fotografien und die tiefschwarzen Skulpturen aus Kuhdung – und ihr wird alles klar. An einem Elite-College, das vierzigtausend Dollar im Jahr kostet, gilt eine qualifizierte Vertreterin einer Minderheit wie Pena als Hauptgewinn. Alle buhlen um sie und Tomlinson ist diejenige an der NYU, die fürs Buhlen bezahlt wird. »Ich brauche ihre komplette Akte«, sagt O’Hara. »Alles, was Sie haben. Von der Bewerbung bis hin zu sämtlichen Unterlagen.«
»Ich fürchte, die darf ich Ihnen nicht aushändigen. Wir behandeln unsere Übereinkünfte vertraulich.« Zum ersten Mal seit O’Haras Ankunft lächelt Tomlinson sie nicht mehr von oben herab an, sondern auf Augenhöhe.
»Was die Außenwirkung angeht, muss es für die NYU verheerend sein«, sagt O’Hara und lässt sich Zeit, genießt es beinahe – trotz des Hämmerns in ihrem Hinterkopf. »Eine Ihrer vielversprechendsten Studentinnen wurde gerade ermordet. Sie wurde vergewaltigt und entsetzlich zugerichtet, aber das ist nicht alles. Eltern, die sich überlegt haben, ihr Kind an diese Schule zu schicken, werden Abstand davon nehmen. Jedenfalls würde ich das an deren Stelle tun. Was glauben Sie, was diese Eltern davon halten, wenn sie erfahren, dass sich die Schule und deren Verwaltungsorgane weigern, gemeinsam mit den Ermittlungsbehörden an einem Strang zu ziehen?«
»Detective«, sagt Tomlinson und bleckt die Zähne, womit sie wahrscheinlich ein Lächeln anzudeuten glaubt. »Haben Sie eigentlich etwas gegen farbige Frauen?«
Es gibt Leute, denkt O’Hara, denen fällt nichts Besseres ein, als bei jeder Gelegenheit die Rassismuskarte zu ziehen. Besonders solche, die sich selbst als »farbige Frauen« bezeichnen. Klingt nach dem Namen einer schlechten Soulcombo.
Was nicht heißt, dass Tomlinson völlig danebenliegt. Man wächst nicht wie O’Hara als arme Irin in Bay Ridge auf, ohne einen kleinen Redneck in sich zu haben. Wahrscheinlich nicht nur einen kleinen. Und dass Tomlinson größer, schlanker und besser gekleidet ist und an ihrer Wand eine Doktorurkunde aus Harvard hängt, gegen die O’Hara mit ihrer gewöhnlichen Hochschulreife nicht anstinken kann, macht es vermutlich auch nicht besser. Aber glaubt Tomlinson wirklich, O’Hara würde das ihr gegenüber zugeben? Und was hätte es überhaupt zu bedeuten? O’Hara sagt kein Wort, lächelt nur und überquert fünf Minuten später den Washington Square mit zwei großen Aktenordnern unter dem Arm.
Im grauen Licht des Nachmittags sieht der Park ganz anders aus als während der verschneiten Mahnwache. Sowohl das Gelände als auch die Menschen wirken deutlich schäbiger. Niemand der in Sichtweite befindlichen Personen hat auch nur entfernt etwas mit der Universität zu tun. Die Collegekids mit ihren rosigen Wangen sind von Menschen
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