Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Schreibtische, ein schwarzes Brett und einige abgewetzte Stühle. Als ein Laster an der Ecke hält, beleuchten dessen Scheinwerfer einen kurzen Augenblick lang einen Tisch mit Karten, Blumen und Kerzen und ein vergrößertes Bild von Pena mit ihren beiden kleinen Schwestern darüber. Alle drei tragen hübsche Ausgehklamotten und strahlen in die Kamera. Es ist das dritte Bild von Pena, das O’Hara zu Gesicht bekommt, und das einzige, auf dem sie glücklich wirkt. Auf der Rückfahrt nach Riverdale besorgt sich O’Hara noch ein Sandwich.
Anschließend holt sie Bruno zu seinem Abendspaziergang ab, zieht das gut gelaunte Tier an einer Leine über den Bürgersteig hinter sich her, während sie Krekorian eine ausführliche Nachricht auf die Mailbox spricht und ihm von Tomlinson, Lebowitz und Bad Idea Tattoos erzählt. Als sie endlich wieder die Treppe hochsteigt, um sich auf ihr Puffsofa zu legen, ist es bereits acht Uhr.
O’Hara stellt sich ihr Sofa gerne wie ein Floß vor, auf dem sie sich wie Huck Finn durch den Abend treiben lässt – ein Buch und ein Getränk in der Hand, der Hund zu ihren Füßen und alle notwendigen Gebrauchsgegenstände (Fernbedienung, Handy, Laptop) in Reichweite. Obwohl sie Krekorian ständig wegen seiner höheren Schulbildung aufzieht, liest O’Hara meistens drei Bücher gleichzeitig. Auf der Rückenlehne liegen jetzt aufgereiht wie aufgesteckte Angeln am Ufer: Mortal Causes, ein schottischer Mysteryroman, Garbage Land: On the Secret Truth of Trash und 102 Minutes. Heute Abend konzentriert sie sich aber auf den Blätterstapel aus dem Copy-Shop, begnügt sich in respektvoller Erinnerung an ihren Kater mit Wasser und verzichtet darauf, etwas Rotes oder Braunes zu trinken. Als das Telefon klingelt, ist es Nia Anderson, die Leiterin von Big Sisters, die sich auf O’Haras Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter zurückmeldet. »Tut mir leid, dass ich Sie verpasst habe«, sagt sie. »Alle sind so niedergeschlagen, wir haben schon mittags zugemacht. Außerdem gehen wir morgen alle zur Trauerfeier.«
»Ich habe die Kerzen und die Karten gesehen«, sagt O’Hara, »und das große Bild an der Wand.«
»Es wurde erst im vergangenen Monat bei einem Kegelabend aufgenommen. Auf dem Bild sind ihre kleinen Schwestern Moreal und Consuela Entonces.«
»Hat Big Sisters den Kontakt zwischen Pena und den Mädchen hergestellt?«
»Ganz genau – das war im Rahmen unseres Mentorenprogramms. Pena hatte schon Zeit mit Moreal und Consuela verbracht, als die beiden noch bei ihren Pflegeeltern, Donna und Albert Johnson lebten. Wir hatten sie über einem Dutzend Mädchen und Familien vorgestellt, bevor wir das Passende für sie gefunden hatten. Das Ganze ist auch deshalb so ungeheuerlich und entmutigend für Big Sisters, weil die Geschichte bis vor drei Tagen unsere große Erfolgsstory war. Francesca hat den beiden Mädchen nicht nur beratend zur Seite gestanden, sondern auch deren Mutter, Tida Entonces, einer ehemaligen Heroinsüchtigen. Sie hat ihr Mut gemacht, von dem Stoff loszukommen, und das Sorgerecht für ihre Töchter zurück zu erkämpfen. Alle hatten die Hoffnung aufgegeben, auch Tida. Vielleicht schafft sie es ja, sauber zu bleiben, und auch die Mädchen in der Spur zu halten. Aber im Moment scheint mir das alles entsetzlich heikel und mehr als traurig.«
Andersons verzweifelte Stimme treibt O’Hara, die sich plötzlich für ihre Faulheit schämt, vom Sofa nach Washington Heights. Entonces und ihre Töchter wohnen in der Fort Washington Avenue 251 an der Ecke zur 170th Street, einem dunklen, unfreundlichen Gebäude westlich des Broadway. Vor zwanzig Jahren hatten die Dominikaner die Macht im Viertel übernommen. Fünfzig Jahre davor war die Gegend so jüdisch wie einst die Lower East Side. Es gab viele deutsche Flüchtlinge, die ihren Akzent nie ganz ablegten und auch nie richtig Fuß fassten, was deren Kinder und Enkelkinder aber mehr als nur wettmachten. Auch die Dominikaner schlagen sich nicht schlecht. In weniger als zwanzig Jahren schafften sie es, die härtesten Banden ins Rennen zu schicken und den Drogenhandel größtenteils zu kontrollieren.
Tida Entonces ist eine kräftige Frau in einem Hauskleid und Schlappen. Sie führt O’Hara durch den dunklen Flur einer alten Wohnung, bietet ihr einen Platz an einem Tisch mit Resopalplatte in der neonbeleuchteten Küche an und schenkt ihr einen Kaffee ein. Der Schaden, den ihre zwanzig Jahre währende Heroinsucht angerichtet hat, ist ihr deutlich
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