Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
anzusehen. Ebenso unübersehbar ist aber auch der intelligente Blick, die hübsche Form ihres Gesichts und die aufflackernde Sinnlichkeit in ihren Mundwinkeln.
Vielleicht ist das der einzige Vorteil, wenn man bereits in jungen Jahren süchtig wird. Sofern man es schafft, wieder runterzukommen, bleibt einem noch ein bisschen Zeit danach. Als ihre Töchter Moreal und Consuela traurig, benommen und schüchtern in die Küche kommen, sieht O’Hara in den Gesichtern der Mädchen die Schönheit aufblitzen, die ihre Mutter einst verschwendet hat. Anderson hatte ihr eine zerbrechliche Familie geschildert, die gerade erst wieder auf die Beine gekommen ist, was sich auch am absolut makellosen Zustand der Wohnung zeigt. Eine gute Haushaltsführung ist für Tida Entonces keine freiwillige Option. Das System lässt sich Zeit, bevor es einer Mutter ihre Kinder wegnimmt. Und es lässt sich noch mehr Zeit, sie ihr wiederzugeben. Hat man sie erst einmal verloren, hat man für immer das Recht verspielt, im Zweifelsfall als unschuldig zu gelten. Und es ist wahnsinnig leicht, sie ein zweites Mal zu verlieren. Solange Entonces das Glück hat, ihre Kinder bei sich zu haben, muss sie mit unangemeldeten Besuchen des Jugendamts rechnen. Ein nicht einwandfreier Drogentest oder das geringste Anzeichen für einen Rückfall und sie würden ihr die Kinder für immer abnehmen.
Entonces sieht von ihrem Kaffee auf und versucht zu lächeln. »Ich würde sagen, Francesca gehörte zur Familie. Aber dabei käme meine Familie viel zu gut weg. Die haben nie etwas für uns getan, aber eine junge Frau, die ich gerade erst zwei Wochen kannte, wollte mich retten. Und trotzdem war es hart. Nach zwanzig Jahren Sucht hatte ich meine Ausreden wie Spielzeugsoldaten im Kopf aufgereiht – Erklärungen dafür, weshalb es in meinem Leben keine Hoffnung mehr gibt und es okay ist, einfach weiter zu drücken. Plötzlich waren diese Ausreden weg.«
»Wie viel Zeit hat Francesca hier verbracht?«, fragt O’Hara.
»An einem Abend in der Woche hat sie den Mädchen bei den Hausaufgaben geholfen. An jedem zweiten Wochenende gingen sie zusammen ins Kino oder ins Museum. Einmal durften die beiden sogar bei ihr übernachten, das war eine besondere Belohnung. Am nächsten Morgen gingen sie zum Sonntagsfrühstück ins Village, Francesca hat sie eingeladen. ›Wir haben nicht gefrühstückt, Mami, wir waren beim Brunch ‹, haben sie gesagt. Sie wollte ihnen zeigen, dass da draußen eine ganz große weite Welt ist.«
»Wann war sie zum letzten Mal hier?«
»Der Hausaufgabenabend war meistens montags oder dienstags. Wegen der Feiertage war sie seit Samstag vor Thanksgiving nicht mehr hier. Da waren sie zusammen im Naturkundemuseum. Sehen sie den?«, fragt Tida und zeigt auf einen Plastikdinosaurier auf der Küchenanrichte. »Den hatte Francesca bei ihrem letzten Ausflug gekauft.« Neben dem Dinosaurier liegt eine kleine weiße Tüte. Eine von der Sorte, wie man sie in Süßwarenläden mit einer kleinen Plastikschaufel selbst füllt. O’Hara erinnert sich an die Schokolade, die Lebowitz zwischen Penas Zähnen fand. »Was ist mit den Süßigkeiten?«, fragt O’Hara.
»Die sind auch von Francesca. Sie hat immer irgendwelche Kleinigkeiten mitgebracht und zur Belohnung verschenkt.«
»Wie fanden Ihre Nachbarn, was Francesca für Ihre Familie getan hat? Waren sie neidisch?«
»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre«, sagt Entonces.
»Was war mit den jungen Männern im Viertel? Hat sich vielleicht jemand besonders für das schöne Mädchen interessiert? Gab’s jemanden, der mit ihr ausgehen wollte?«
»Die spielten gar nicht in ihrer Liga.«
»Deswegen haben sie aber vielleicht trotzdem gefragt. Es muss doch Interessenten gegeben haben.«
»Wenn sie zu Besuch kam«, sagt Entonces müde, »war Francesca wie jedes andere hübsche Latinomädchen. Ob Sie’s glauben oder nicht, hier im Haus gibt’s viele Mädchen, die genauso hübsch sind, sogar noch hübscher. So wie sie sich angezogen und benommen hat, wäre niemand daraufgekommen, dass sie ein teures College besucht und im Leben so erfolgreich ist. Das hat man ihr nicht angesehen.« Entonces starrt in ihren Kaffee, als würde sie dort nach etwas suchen.
»Vielleicht hat sie Ihnen schon genug beigebracht«, sagt O’Hara. »Vielleicht hatten Sie Francesca lange genug, um es jetzt alleine zu schaffen.«
»Detective, ich bin 33 Jahre alt. Wenn ich älter aussehe und ich weiß, dass es so ist, dann deshalb, weil ich so viele
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