Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
auf, aber innerlich fühlt sie sich, als wäre sie wieder sechzehn Jahre alt, käme gerade aus dem Büro der Schulschwester der Bay Ridge High und sei gezwungen worden, ihre Hippiebluse zu heben und ihren nach neun Monaten Schwangerschaft dicken Bauch zu entblößen. Sie stochert in dem Durcheinander auf ihrem Schreibtisch herum, als würde sie etwas Wichtiges suchen. In Wirklichkeit ist sie nur viel zu erschüttert, um klar denken zu können. Bei ihrem erbärmlich orientierungslosen Gefingere stößt sie an ihr Telefon und es klingelt. Sie glaubt, selbst dafür verantwortlich zu sein, doch es klingelt noch einmal. »Detective O’Hara«, sagt eine aalglatte Stimme am anderen Ende. »Hier spricht Richard Mayer. Ich bin Anwalt und rufe im Auftrag eines Klienten an. Ich habe Informationen, die für Ihre Ermittlungen von einigem Wert sein dürften.« O’Haras erster Gedanke ist, dass es sich um einen Streich handelt und einer der Jungs sie zum Lachen bringen möchte. Aber alle Angehörigen ihres Teams befinden sich im Raum, und keiner hat ein Telefon am Ohr. Mayer, der nicht wissen kann, dass sie gerade suspendiert wurde, muss ihren Namen aus der Zeitung haben. O’Hara weiß, dass sie weder die Selbstsicherheit noch das nötige Urteilsvermögen besitzt, um seinen Anruf nicht entgegenzunehmen.
Während alle im Raum Anwesenden sie anstarren, diktiert O’Hara Mayer ihre Handynummer und scheucht ihn aus der überwachten Leitung. Nachdem er aufgelegt hat, sagt sie: »Mom, jetzt ist es gerade schlecht. Ich verspreche, dass ich dich anrufe, sobald ich zu Hause bin.« Dann wendet sie sich wieder den Anwesenden zu. »Mütter«, sagt sie, »irgendwie wissen sie immer, wenn was los ist.«
»Deine Mutter lässt sich deine Handynummer geben?«, fragt Loomis.
»Sie hat sie bestimmt schon zwanzigmal aufgeschrieben und findet sie nicht mehr«, sagt O’Hara.
»Tatsächlich?«, fragt Krekorian.
Obwohl O’Hara ganz plötzlich wieder Mut gefasst hat, gibt sie weiterhin die Niedergeschlagene, die sie eine Minute zuvor noch war. Langsam und zögerlich nimmt sie ihren Mantel und ihre übrigen Habseligkeiten und schleicht aus dem Raum. Mit einer Schrittgeschwindigkeit, als würde sie Wasser treten, steigt sie die Treppe hinunter, überquert die Straße zu ihrem Wagen, starrt zu dem schmalen Fenster ihres alten Büros hinauf und wartet auf den Klingelton ihres Handys.
29
Zehn Minuten vor Mitternacht ertönt der Summer. O’Hara betritt ein elegantes Kalksteinhaus auf der 49th östlich der 3rd und fährt in einem offenen Gitterfahrstuhl nach oben. Richard Mayer wartet in einem Kaschmirblazer und gebügelten Altherrenjeans in dem spärlich beleuchteten Marmorfoyer seines Penthouse. Während er O’Hara durch eine Abfolge ebenso düsterer Räume führt, fragt sie sich, ob Mayer auf Atmosphäre oder eine niedrige Stromrechnung aus ist. Mayer bittet O’Hara in einen kleinen Raum, der gerade hell genug ist, damit O’Hara in dem Mann, der eingesunken auf dem Sofa sitzt und alt, gebrechlich und krank wirkt, also ganz anders aussieht als im Fernsehen, Henry Stubbs erkennt, einen von zwei Sprechern bei den Lokalnachrichten auf CBS. »Detective«, sagt Mayer. »Das ist Hank Stubbs.«
»Das sehe ich«, sagt O’Hara, während Stubbs noch tiefer in seiner Sofaecke verschwindet.
»Wir sind hier«, sagt Mayer, »weil Hank vor acht Monaten einen Abend mit Francesca Pena verbrachte. Eine Verabredung, die ein Escort-Service namens Aphrodite vermittelt hatte.«
Mayer überreicht O’Hara eine auf den 9. April 2005 datierte American-Express-Quittung, dazu einen abgestempelten Reisepass, Flugtickets und eine Rechnung des Covent Garden Hotels, die allesamt belegen, dass sich Stubbs an dem langen Thanksgiving-Wochenende, an dem Pena ermordet wurde, in London aufhielt. O’Hara als Fan von Stubbs zu bezeichnen wäre übertrieben, aber er ist mit Sicherheit der einzige Nachrichtenmoderator, dessen Schmierigkeitsfaktor so niedrig ist, dass sie ihn erträglich findet. Manchmal sieht sie seine Sendung, wenn sie mit Bruno vom Spazierengehen nach Hause kommt. Sie hätte ihn auf 48 geschätzt. Laut Reisepass ist er aber 61 und sieht auch im Halbdunkel keinen einzigen Tag jünger aus.
»Nur einen Abend?«, fragt O’Hara Stubbs.
»Ganz genau«, antwortet Mayer an dessen Stelle.
»Hat sie Ihnen nicht gefallen?«, fragt O’Hara und dreht ihren Stuhl, um Stubbs direkt ins Gesicht zu sehen.
»Sie gefiel mir sogar sehr gut«, sagt Stubbs. »Ich habe ein
Weitere Kostenlose Bücher