Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
rein und fuhr in nördlicher Richtung niemals vor achtzehn Uhr und nie nach zwanzig Uhr wieder heraus. Außer freitags, da war es nie später als 16 Uhr. Am Mittwoch machte er sich um 13.20 Uhr auf den Heimweg und der nächste Eintrag auf der Rechnung stammt erst wieder von Montag, 6.58 Uhr.
»Darf ich Sie was fragen?«, sagt O’Hara nickt in Richtung Wand. »Wieso arbeiten Sie hier? Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber nach einer Kanzlei für einen Juristen mit Harvardabschluss sieht es hier nicht aus.«
»Das gefällt mir ja gerade. Bei den vornehmen Firmen wäre ich immer nur der Quotenjude. Oder noch schlimmer, ich müsste so tun, als wäre ich keiner – müsste dem Sportverein beitreten und behaupten, meine Eltern kämen aus Connecticut. Ich bin lieber hier, wo ich mit Leuten arbeiten kann, die ich mag, und wo ich es in nur sechs Jahren zum Partner bringe.«
»Von dem Schweinegeld, das Sie hier verdienen, mal ganz zu schweigen.«
»Die Vergütung stimmt.« Delfinger mag ein Wichsgesicht sein, aber in Anbetracht des widerlichen Gestanks, der aus seinem Papierkorb aufsteigt, kann sich O’Hara nicht vorstellen, dass er die Nerven hätte, jemanden zu Tode zu foltern. Außerdem stimmt alles, was er ihr erzählt, mit dem überein, was sie bereits von Stubbs und Lee erfahren hat. »Kaufen Sie Ihrer Frau von dem Geld mal was richtig Teures«, rät ihm O’Hara, und als sie die Abrechnung in ihrer Manteltasche verstaut und aufsteht, ist Delfinger so dankbar dafür, dass sie seine Ehefrau nicht angerufen hat, dass er vor Erleichterung beinahe losheult. Stattdessen aber öffnet er eine kleine lackierte Schachtel und überreicht ihr seine Karte. »Wenn Sie mal Hilfe bei der Steuererklärung brauchen, geht das aufs Haus.«
32
Das Bild, das O’Hara Jürgen Muster auf die graue Arbeitsfläche aus Emaille legt, verfehlt seine Wirkung, aber immerhin leugnet er nicht. »Aphrodite ist mit Abstand meine Lieblingsagentur in der Stadt«, sagt er und fährt sich mit den langen Fingern durch sein professionell verwuscheltes hellbraunes Haar. »Evelyn schickt mir drei oder vier Mädchen die Woche und meistens besorgen sie’s mir gleich hier im Büro. Das macht einen klaren Kopf und ich kann mich besser konzentrieren.«
Ist ja prima, denkt O’Hara.
Mit erhobener Stimme an eine Person hinter einer milchig durchscheinenden Trennwand gerichtet: »Hab ich Recht, Christina?«
Als O’Hara Muster in der vorangegangenen Nacht gegoogelt hat, war sein Name überall aufgetaucht: Parfümflaschen, VIP-Räume in Nachtclubs, Zeitschriften-Relaunches, sogar in Zusammenhang mit dem Kate-Moss-Oben-ohne-Plakat für Calvin Klein an der Kreuzung Lafayette und Houston. Irgendwo wurde er sogar als das vielseitigste Designgenie der Stadt beschrieben. Notgeile arme Sau trifft es schon eher, denkt O’Hara. Eigentlich verwunderlich, denn Muster ist so lang und kantig, als hätte er sich selbst entworfen. Dank seines fein geschnittenen Gesichts und seines silbrigen Dreitagebarts ist er auf jeden Fall attraktiv genug, um für weibliche Zuwendungen nicht bezahlen zu müssen.
»Konzentrieren Sie sich bitte auf das Bild hier«, sagt O’Hara und deutet darauf. Abgesehen von dem Bild liegt auf Musters makellosem, rechteckigem Arbeitstisch nur noch ein auf einer leeren Seite aufgeschlagener Skizzenblock. Als ihm O’Hara das Bild zuschiebt, folgt ihm Muster mit den blassgrünen Augen, als handelte es sich um einen immer größer werdenden Fleck.
»Lee hat ausgesagt, Sie hätten mehrfach bei ihr angerufen und förmlich um ein zweites Treffen gebettelt.«
»Holly«, sagt Muster. »Ja, natürlich. Das Bild schmeichelt ihr nicht gerade.«
»Wie haben Sie’s aufgenommen, als es Lee nicht mehr gelang, Kontakt zu ihr herzustellen?«
»Hab mich geärgert«, sagt Muster, dessen wunderschön geschnittener grauer Anzug die Grenzen zwischen Mann und Tisch verschimmen lässt. »Das Tolle am Sex mit Professionellen im Gegensatz zu sogenannten Amateurinnen ist ja, dass ich normalerweise entscheide, wann die Beziehung beendet ist. Von einem Mädchen sitzengelassen zu werden, ist ziemlich niederschmetternd.«
»Fühlten Sie sich in Ihren Gefühlen verletzt?«
»So in der Art. Aber ich wurde von keiner mordlustigen Raserei erfasst. Und wenn Sie Evelyn fragen, werden Sie feststellen, dass ich seither noch viele andere sehr befriedigende Verabredungen wahrgenommen habe.«
Delfingers Büro war ein Fotoalbum. Musters Tribeca-Loft ist völlig frei von
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