Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
Hinweisen auf etwas so Abgeschmacktes wie eine Familie oder eine Vergangenheit. Wie enttäuscht wäre Muster wohl, denkt O’Hara, wenn er wüsste, dass er seinen Frauengeschmack mit einem verschlankten Streber aus Brooklyn teilt, der seine Anzüge von der Stange kauft und jeden Abend nach Hause in die Vorstadt fährt. Männer brauchen ein ganzes Leben, um sich eine Persönlichkeit zurechtzulegen, die dann doch nicht mehr als einen Millimeter Tiefgang besitzt.
»Wo waren Sie an Thanksgiving um vier Uhr morgens? Und bitte, Ihrer Familie zuliebe, erzählen Sie mir nicht, Sie haben das Fest zu Hause verbracht.«
»Ich war hier«, sagt Muster. »Wo ich auch gestern Nacht und vorgestern Nacht war. Ich habe übrigens auch noch einen Vater und eine Mutter, aber die leben in Wien, und an der Donau feiert man kein Thanksgiving.«
»Woran haben Sie gearbeitet?«
»An einem Löffel.«
»Ach was. Klingt nach einem bahnbrechenden Projekt.«
»Der richtige Löffel kann die Welt verändern.«
»War jemand bei Ihnen?«
»Christina.«
Ohne ein weiteres Wort steht O’Hara auf und geht in den sehr viel kleineren Raum hinter der Trennwand, wo eine erschreckend dünne Asiatin von einem großen Kaffee aufblickt. »Ich hoffe, er zahlt gut«, sagt O’Hara.
»Tut er nicht.«
»Ach.«
»Er ist genial und, ob Sie’s glauben oder nicht, ich lerne hier etwas. Wenn ich noch ein bisschen länger durchhalte, kann ich in jedem Designeratelier der Welt arbeiten. Wenn ich jetzt aufhöre, habe ich zehn Monate lang für nichts und wieder nichts Scheiße gefressen.«
»Am Abend vor Thanksgiving, waren Sie da die ganze Nacht hier bei ihm?«
»Traurig, oder?«
»Haben Sie auch keine Familie?«
»Die ist in LA. Ich hätte mir den Flug nach Hause sowieso nicht leisten können.«
»Können Sie beweisen, dass Sie hier waren?«
»Warum sollte ich für den Schwachkopf lügen?«
»Aus demselben Grund, weshalb Sie nicht kündigen. Würden Sie ihm auch einen blasen, wenn er Sie darum bittet – Sie wissen schon, damit er einen klaren Kopf bekommt?«
»Das geht Sie gar nichts an.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagt O’Hara und lässt eine Kopie des Fotos von Pena und ihre Karte da. »Aber eine junge Frau, mit der Ihr Chef Sex hatte, wurde ermordet. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«
Obwohl es O’Hara kaum erwarten kann, das blitzblanke Loft zu verlassen und endlich wieder auf einem dreckigen New Yorker Bürgersteig zu stehen, macht sie auf dem Weg nach draußen noch einmal kurz in Musters Büro Halt. »Bei Ihrer Verabredung mit Holly«, fragt O’Hara, »gab es da auch Rollenspiele?«
»Sie hat sich als Schulmädchen verkleidet«, sagt Muster. »Karierter Rock, weißes Hemd, Kniestrümpfe. Hatte sogar eine Schultasche und eine Brotdose mit der Partridge Family dabei. Es kommt auf die Details an und die stimmten bei ihr.«
»War das Ihre Idee?«
»Nein. Ich bestelle immer nur einen hübschen Hintern und kleine Titten.«
»Aber die Kleine-Mädchen-Nummer hat Ihnen gefallen?«
»Mag ein abgegriffenes Klischee sein, aber bei mir hat’s funktioniert.«
33
O’Hara hatte sich das Empire Diner ausgesucht, weil es vom Privilege nur ein paar Häuser entfernt ist. Seit mehreren Jahren war sie nicht mehr hier gewesen und sie hatte vergessen, wie protzig und vornehm es ist, von schwul mal ganz zu schweigen. Ein riesiger glatzköpfiger Schwarzer tänzelt auf sie zu und stellt sich als Maître Dee Dee vor. Als er sie an ihren Tisch führt, erinnert sich O’Hara wieder an das warme Kerzenlicht, das zwischen den schwarzen Tischoberflächen und der verspiegelten Decke hin und her springt, an den Mann, der auf einem Piano in der Ecke Gershwin spielt, und die kleine Bar, an der altmodische Cocktails ausgeschenkt werden. Der Spezialdrink am heutigen Abend heißt »Painkiller« – Rum, Kokoslikör und Ananassaft -, aber O’Hara hält sich zurück, bestellt ein Amstel-Bier und beobachtet die Taxis, die die 10th entlangrasen.
Erika, die um Mitternacht dran ist, trifft als Erste ein. Als O’Hara ihr den Zwanziger unter den G-String klemmte, hatte sie auch ihre NYPD-Karte dazugesteckt. Erika half O’Hara, Kontakt zu Teresa, Leslie und Ina aufzunehmen, und sie treffen alle gemeinsam zehn Minuten später ein.
»Na, schau einer an, was haben wir denn da?«, sagt Dee Dee und geleitet sie an O’Haras Tisch. »Ihr seht so phantastisch aus, Ihr müsst Filmschauspielerinnen sein.«
»Wie wär’s mit Stripperinnen?«, erwidert
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