Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
liebsten hätte er gesagt: Ich bin so froh, dass du da bist, bitte hol mich hier raus. Doch das konnte er nicht. Ricki hatte Nic flüchtig gekannt. Er durfte sie nicht mit Novem Soles in Verbindung bringen. Er musste sie von diesen Wahnsinnigen fernhalten.
Also schüttelte er nur den Kopf: nein.
Sie ließ sich auf ihn sinken, weinte leise und küsste sein Haar. Nicht seine Lippen. Sie hatten sich vor einigen Wochen getrennt. Sie hielt ihn in den Armen, und er hätte am liebsten losgeheult und all die aufgestauten Gefühle herausgelassen.
Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm ans Bett.
Er zeigte auf ihre Krankenschwestertracht und hob fragend die Augenbrauen. Sie zuckte mit den Achseln. » Wenn sie mich erwischen, werd ich eingesperrt. Es war nicht so leicht, zu dir durchzukommen.«
Die Tür öffnete sich, der Sicherheitsmann blickte herein. Ricki hielt Jacks Handgelenk, als würde sie seinen Puls messen. Jack nickte dem Mann kurz zu. Der Wächter schloss die Tür.
» Die Polizei versteckt dich«, flüsterte ihm Ricki zu.
Also stimmte es. Und sie hatte ihn trotzdem gefunden. Er liebte ihre Klugheit. Gern hätte er ihre Hand genommen, doch er rief sich in Erinnerung, dass sie sich getrennt hatten. Sie hielt weiter sein Handgelenk.
» Ming«– es beschämte ihn, dass sie nicht einmal seinen richtigen Vornamen kannte–, » in was bist du da bloß reingeraten?«
Er schüttelte den Kopf und zeigte auf die Operationsnarbe.
» Mir machst du nichts vor. Du kannst sprechen. Normalerweise muss man froh sein, wenn du mal fünf Minuten die Klappe hältst.«
Er schloss die Augen.
» Du brauchst mich nicht zu schützen«, drängte Ricki. » Lass mich dir helfen.«
Der Polizist draußen öffnete die Tür, und Rickis Stimme wurde wieder lauter. » Also, es sieht ganz gut aus. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe.« Sie stand auf und nickte höflich.
Dann ging sie hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Lass mich dir helfen. Niemand konnte ihm helfen, dachte er. Es sei denn, er fand Nics rotes Notizbuch.
4
Upper West Side, Manhattan
Es ist nicht einfach, die Leichen zweier schwergewichtiger Männer aus einer Wohnung zu schaffen. Wir mussten davon ausgehen, dass die Wohnung irgendeinen Bezug zu Bell aufwies, und wir wollten vermeiden, dass jemand nach ihm suchte oder ihn mit zwei Toten in Verbindung brachte. Wir wollten seinen Namen nicht in der Zeitung lesen.
Ich rief Bertrand an. Er traf eine Stunde später ein, mit einem Umzugswagen und Kisten. Für Mila hatte er eine dazu passende Möbelpackerkluft dabei, samt Kappe, die einen großen Teil ihres Gesichts verdeckte. Er hob eine Augenbraue, als er die Toten sah, murmelte etwas in seinem haitianisch angehauchten Französisch und ging an die Arbeit. Die Leichen waren binnen fünfzehn Minuten verladen und abtransportiert. Er packte auch Bell, mit Beruhigungsmittel vollgepumpt, in eine Kiste.
» Du bringst ihn nicht in die Bar?«, fragte ich, zu Mila gewandt.
» Soll ich vielleicht einen Bewusstlosen an den Gästen vorbeischleppen?« Mila hält mich manchmal für bescheuert. » Ich bringe Bell an einen Ort, wo er keinen Ärger macht und man ihn verhören kann. Ein Familienvater will sein nettes Leben bestimmt nicht verlieren, deshalb wird er mit uns zusammenarbeiten. Kümmere du dich um die Reise nach Las Vegas.«
Als sie weg waren, trat ich ans Fenster, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte. Die CIA hatte mich in Ruhe gelassen, seit ich ihr Angebot, wieder in ihre Dienste zu treten, abgelehnt hatte. Zwar hielt ich es für unwahrscheinlich, dass sie das Interesse an mir ganz verloren hatten, aber zumindest konnte ich niemanden erkennen, der Mila und dem Truck folgte.
Ich ging hinaus auf die Straße und prägte mir die Gesichter der Leute um mich herum ein. Es waren acht Blocks bis zum Columbus Circle. Es tat gut, den Wind im Gesicht zu spüren. Der Abend war seltsamerweise voller Musik. Aus den Häusern, an denen ich vorbeikam, hörte ich die leisen Töne einer Mahler-Symphonie, flotte kubanische Salsa und donnernde Rhythmen über Hip-Hop-Gesang. Musik war etwas, an dem sich Leute erfreuten, die ein normales Leben führten.
Wenn man sein Kind sucht, lebt man in seiner eigenen Hölle. Es ist wie in einem großen dunklen Raum, man tastet sich an der Wand entlang, auf der Suche nach einer Tür oder einem Fenster. Weil man trotzdem die Hoffnung hat, dass es einen Ausgang gibt, dass eines Tages eine Tür aufgeht, das Licht in deine Gefängniszelle
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