Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
lassen.«
» Ich mach diese eine Sache, und das war’s dann.«
» Nein. Wir brauchen eine Idee, wie wir Daniel retten und verhindern können, dass sie dich je wieder in der Hand haben.«
Ich schwieg für fünfzehn Sekunden. Ich zählte im Stillen mit. Man braucht ungefähr fünfzehn Sekunden, um in einer hitzigen Debatte mögliche Alternativen abzuwägen, wenn man beschließt nachzugeben und eine andere Richtung einzuschlagen. Die Undercover-Arbeit besteht zu 90% aus Schauspielerei und nur zu 10% aus Beobachtung. Sie hatte eine bestimmte Erwartung an mich, und ich beschloss, der zu sein, als den sie mich sehen wollte. Nicht der verzweifelte Einzelkämpfer, der ausschließlich seinen Sohn im Sinn hatte, sondern der Mann, der ihr beistand und auf den sie sich verlassen konnte.
» Was schlägst du vor?«
Sie deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Tür. » Sag mir zuerst, wer diese reizende Schulabbrecherin ist.«
» Leonie. Sie handelt mit Informationen und hilft Leuten unterzutauchen. Sie lebt unter falschem Namen, weil sie sich vor einem gewissen Ray Brewster versteckt. Der Typ arbeitet mit den Killern zusammen, die hinter dir her sind. Sie hat Papiere für Annas Kinder gefälscht, und jetzt hat Anna ihre Tochter Taylor entführt, damit Leonie mir hilft, Jack Ming zu finden.«
» Weil sie Leute versteckt, glauben die, dass sie Ming findet.«
» Ja.«
» Sie haben eure beiden Kinder.«
» Ja.«
» Schläfst du mit ihr?« Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Ihr Blick bewegte sich irgendwo zwischen entsetzt und amüsiert.
Milas unnachahmliche Direktheit. » Das geht dich nichts an.«
» Also ja. Das kompliziert die Sache zusätzlich.«
Es war ungefähr das Letzte, worüber ich mit ihr sprechen wollte. » Wir waren erschöpft und… verzweifelt.«
» Verstehe, eine Frau in einer solchen Situation.«
Ich schüttelte den Kopf und lachte kurz auf. » Sieht so mein Leben aus, wenn ich meinen Sohn gefunden habe und weiter für dich arbeite? Ich soll dir über jedes Detail Bericht erstatten? Vergiss es.«
» Ich wollte es nur wissen.«
» Warum?« Moment mal, dachte ich, es kann sie doch nicht interessieren, was ich tue. Mit wem ich schlafe. Sie hatte nie das leiseste Interesse an mir gezeigt oder an sonst jemandem. Sie war eiskalt, außer wenn sie etwas oder jemanden im Visier hatte. Dann wurde sie von einem inneren Feuer angetrieben.
» Du vergisst, dass wir– meine Vorgesetzten und ich– viel in dich investiert haben.«
» Mila, du hast doch sicher auch noch etwas anderes zu tun, als mich zu nerven. Mach Urlaub. Ich ruf dich an, wenn es vorbei ist. Falls du nichts von mir hörst, weißt du, dass ich tot bin. Du verstehst diese Situation einfach nicht. Wie es ist, wenn einem jemand, den man liebt, weggenommen und bedroht wird.«
Sie sah mich traurig an. » Niemand kann deinen ganz speziellen Schmerz verstehen.« Irgendetwas zwischen uns veränderte sich. » Du hast mich gefragt, warum ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt ist.«
» Vermutlich liegt es an deinem unwiderstehlichen Charme und deinen geistreichen Scherzen.«
Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Computer. » Ich hab’s für dich aufgeschrieben. Lies es. Dann entscheide, ob du mir das Leben deines Sohnes anvertraust.«
D R I T T E R TE I L
Tu Mori
63
Sam: Ich will dir erzählen, wie alles gekommen ist. Wie ich zu der wurde, die ich heute bin.
Mila
Harpă, Moldawien
(Meine kleine Stadt ist nach der Harfe benannt. Ist das nicht nett? Ich spiele aber nicht Harfe.)
Es war vor drei Jahren. Die Kinder sind mit ihrer Arbeit fertig und in den sonnigen Nachmittag hinausgerannt. Ich wische Farbflecken auf und fege Papierschnitzel weg. Die Malfarben sind ein Geschenk von einer der Familien, die in Transnistrien das Sagen haben, jenem Teil Moldawiens, der sich selbst als unabhängig betrachtet. Mein Onkel und meine Tante sagen leise am Mittagstisch, dass die ganze Region von Gaunern und Verbrechern beherrscht wird. Nicht bloß von korrupten Politikern, sondern von richtigen Kriminellen: Schmugglern, Mafiosi und Drogenbaronen, die ihre Ware in den Westen nach Österreich und Ungarn liefern, und im Norden nach Moskau, Kiew und Sankt Petersburg.
Doch ich muss eines klarstellen: Was kümmert es mich, woher die Malfarben und das Papier stammen? Meiner Schulklasse ist damit sehr geholfen. Die Kinder profitieren davon, und es ist mir egal, ob ein Mafioso uns Buntstifte gekauft hat, um sein Gewissen zu beruhigen. Die Städte im Norden
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