Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
irgendwie unglücklich aussieht.
Wahrscheinlich hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie kein Geld schickt. Auch wenn sie es nicht zugibt.
Jemand öffnet die Klassenzimmertür hinter mir. Ich kenne den Mann nicht, der da in der Tür steht. Er ist groß, der Kopf kahlgeschoren, eine breite Tätowierung am Hals. Seine Augen sind braun und hart. Ein Mann, der einen kurz den Atem anhalten lässt, wenn man ihn sieht. Aber nicht in dem Sinn, dass einem das Herz höher schlägt.
Er lächelt. Ich weiß, dass er kein Vater eines Schulkinds ist und auch nicht von der Schulbehörde. Er ist zu gut gekleidet: italienischer Anzug, Pullover aus Seide, protzige Uhr an der Gorillapranke.
Er spricht mich mit meinem Namen an, fragend. Ich nicke.
» Ich bin ein Freund von Nelly«, sagt er. » Du kannst mich Vadim nennen.«
Als Lehrerin bin ich darauf trainiert, die kleinen Lügen der Kinder zu durchschauen. Der Mann sagt nicht, dass er so heißt, sondern dass ich ihn so nennen kann. Wo ist Nelly da hineingeraten, denke ich. Hat sie Probleme?
Angst steigt in mir hoch. Vadim lächelt. Er tritt ein und schließt die Tür. Das Klicken klingt wie ein Hammerschlag in der Stille.
» Ich bring dir eine Nachricht von Nelly«, sagt er.
Oh. Gut, denke ich. Vielleicht arbeitet er in Israel mit ihr zusammen. Womöglich hat sie wirklich einen Geschäftsreisenden kennengelernt: den Mann hier.
Er hält eine DVD hoch. Er geht zum Fernseher hinüber, schaltet die Geräte ein und nimmt die DVD aus dem Player, eine Raubkopie einer Dokumentation mit schlechtem moldawischem Kommentar. Ein Film über Sterne und Planeten. Er wirft einen Blick auf die DVD , als interessiere es ihn, welch nützliche Dinge ich den Kindern beibringe.
Er legt seine Disc ins Gerät ein und drückt auf Play.
Ich stehe wie erstarrt da, als das Gesicht meiner Schwester erscheint. Nelly weint. Sie zittert. So habe ich sie nicht mehr weinen sehen, seit unsere Eltern vor sieben Jahren gestorben sind. Ihre Frisur ist anders, blond gefärbt, die Lippen mit grellem Lippenstift bemalt. Ihre Augen sind trüb und stumpf.
Nelly sagt meinen Namen, als wäre es ein Wort aus einer fremden Sprache. Dann höre ich eine tiefe Stimme, die von Vadim. » Sag ihr, was du sagen wolltest«, fordert er sie auf.
» Ich will nach Hause«, sagt Nelly. » Hilf mir, damit ich zurückkommen kann.«
» Sie bereitet uns Probleme«, bemerkt Vadim beiläufig, wie ein Mechaniker über einen kaputten Vergaser oder eine lecke Benzinleitung spricht. » Sie ist ein bisschen hässlicher, als wir dachten. Die Kunden mögen sie nicht, sie verdient nicht genug, sitzt nur auf der Couch herum.«
» Die Kunden«, sage ich. Es ist keine Frage, sondern ein Ausdruck des blanken Entsetzens.
Dann erscheint eine Männerhand und stößt Nelly zurück. Auf ein ungemachtes Bett. Die Laken sind strahlend blau. Die Kamera wackelt ein wenig. Ein Mann mit breiten Schultern und blasser Haut steigt auf Nelly und beginnt wenige Augenblicke später mit den Hüften zu stoßen. Er hat eine dünne blonde Irokesenfrisur.Nelly schreit nicht und wehrt sich nicht. Sie erträgt es einfach.
Der Irokese lächelt über die Schulter in die Kamera. Dann schlägt er Nelly ins Gesicht und macht weiter.
Vadim beobachtet mich, um zu sehen, wie ich reagiere. Dann lächelt er. » Siehst du, mein Chef mag sie, aber es kommt auf die Kunden an. Ich kann dafür sorgen, dass Nelly nach Hause kommt, wenn du willst.«
Wenn du willst. Wenn du willst. Mir wird heiß und kalt. Es schnürt mir die Kehle zu. Die Hitze in meiner Brust verschwindet. Übrig bleibt eine eisige Faust.
Mein Kopf ist fünf Sekunden lang völlig leer.
Dann reiße ich mich aus meinem Schock heraus. Dafür ist jetzt keine Zeit.
» Was wollen Sie?«, frage ich. » Geld?«
» Ich will tausend Euro. Und noch drei.«
» Drei was? Euro?«
» Drei Mädchen.«
Die Stille schmerzt wie ein Messer zwischen den Rippen.
» Besorg mir drei Mädchen, die deine Schwester ersetzen.«
Regungslos stehe ich da und bringe kein Wort heraus.
» Du bist Lehrerin. Die Leute vertrauen dir. Du schaffst das leicht. Am liebsten hab ich Achtzehnjährige.«
Ich soll drei unschuldige Mädchen verkaufen, damit sie… das tun. Um meine Schwester zu retten.
Meine Stimme bleibt ruhig. Wie, das weiß ich auch nicht, denn der Schock vergeht schnell und weicht einem Gefühl, das ich nicht beschreiben kann, einer Glut im Herzen, die über Wut und Zorn hinausgeht. Die Glut einer soeben getroffenen
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