Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
Entscheidung. Er lächelt, weil er denkt, ich zittere vor Angst.
» Und wenn ich keine drei Mädchen finde? Bitte, kann ich Ihnen mehr Geld geben, um Nelly zurückzubekommen?«
» Ich brauch kein Geld, Lehrerin. Ich brauche Ware.«
Ware.
» Gut«, sage ich. Zu schnell.
Er sieht mich stirnrunzelnd an. » Zur Polizei brauchst du nicht zu gehen, das kannst du dir sparen. Die haben wir in der Hand. Und du wirst keine Mädchen beschaffen können, wenn die Bullen wissen, was du tust.«
Ich glaube ihm. Ich habe ja auch nicht vor, zur Polizei zu gehen. In diesem Moment frage ich mich nur, ob ich ihn gleich umbringen soll und ob ich so viel Blut wegwischen kann, damit die Kinder morgen nichts merken. Kindern entgeht nichts.
Ich schlucke schwer. Bloß um eine Reaktion zu zeigen, außer dem alles überwältigenden bitteren Hass, den ich für diesen Mann empfinde.
» Wie soll es gehen?« Meine Stimme hört sich fremd an.
» Ich komm in zwei Monaten wieder. Du bringst die drei Mädchen mit. Sie dürfen höchstens fünfundzwanzig sein. Nicht älter. Du schickst mir die Namen und Fotos in zwei Wochen, und ich beschaffe ihnen Pässe. Wenn sie schon Pässe haben, umso besser. Du sagst ihnen nichts, nur dass Nelly glücklich mit ihrem neuen Job ist, in einem Hotel in Tel Aviv.«
» Und wenn ich keine drei Mädchen finde?«
» Dann bleibt die kleine Nelly bei uns. Der Bordellbesitzer verkauft sie vielleicht weiter, in einen billigeren Puff. Entweder in Israel oder nach Nordafrika. Oder«, fügte er achselzuckend hinzu, » er legt sie um und wirft ihren wertlosen Arsch ins Meer. Du hast die Chance, deine Schwester zurückzuholen. Nutze sie.«
» Ich tu’s. Ich tu, was Sie verlangen«, sage ich mit einem zittrigen Stöhnen.
Vadim ist zufrieden. Botschaft angekommen, Schwester eingeschüchtert, Ware folgt.
Er grinst. » Du, Lehrerin, du bist viel hübscher als Nelly. Mit dir ließe sich schon einiges verdienen.« Er schmatzt mit den Lippen. » Wie heißt es in diesem alten Song von Van Halen– hot for teacher?« Er singt es, sehr falsch, in gebrochenem Englisch. Schließlich nimmt er die Disc aus dem Player und legt sorgfältig die DVD mit der Dokumentation wieder ein. Er dreht sich um und geht. Die Sohlen seiner teuren Schuhe klicken auf dem abgenutzten Fliesenboden am Gang.
Ich sehe ihm durchs Fenster nach, wie er an den Fußball spielenden Jungen vorbeigeht. Der Ball rollt zu ihm hinüber, und er stoppt ihn mit seinem Armani-Schuh. Geschickt. Er kickt ihn mit perfekter Schusshaltung dem größten Spieler auf dem Platz zu. (Natürlich schießt er den Ball dem Größten zu– genau so ein angeberisches Arschloch wie er selbst.) Er geht zu seinem Audi, wirft einen Blick auf eine Karte, steigt ein und fährt weg.
Eine Karte. Er hat noch mehr Ziele in der Gegend, abgelegene Dörfer, andere Leute, die er besuchen und erpressen wird.
Was wirst du für deine Schwester tun?
Ich komme mir vor wie in einem Traum. Ich verschließe meinen Schreibtisch, nehme mein Vorbereitungsheft, meine Lunchbox und meine Tasche. Gehe die Straße entlang, zehn Minuten bis zu unserem Haus.
Zu Hause sind Tante und Onkel beim Kochen und sehen dabei fern, eine rumänische Seifenoper mit dem Titel Nur Freunde, die sie eigentlich gar nicht gut finden, behaupten sie, nach der sie aber trotzdem süchtig sind. Ich küsse sie brav auf den Kopf– Onkels sommersprossigen kahlen Schädel und Tantes leicht fettiges graues Haar– und mache mir eine Tasse schwarzen Tee. Die trage ich in mein Zimmer, das ich mir mit Nelly geteilt hatte, und schließe die Tür.
Ich setze mich auf die Bettkante, trinke den starken Tee und starre einen Wasserfleck über Nellys Bett an. Meine Schwester sagte immer, der Fleck hätte die Form von Frankreich, und ich erwiderte, er sehe mehr aus wie ein Löwenkopf. Ich lege mich aufs Bett und finde, Nelly hat wohl doch recht, er sieht wirklich wie Frankreich aus. Aber auch wie ein Löwenkopf.
Ich schließe die Augen und denke nach.
Ich denke das Problem durch, so sorgfältig und geduldig, als würde ich ein Kartenhaus bauen. Sobald ich eine Schwachstelle erkenne, reiße ich das ganze Gedankengebäude nieder und fange von vorn an.
Der Tee in meiner Tasse wird kalt. Ich stehe auf und gehe auf den Flur hinaus, zu der Wohnung am anderen Ende. Ich klopfe, und nach einer Minute öffnet sich die Tür. Mit seinem einen Bein braucht Iwan ein bisschen länger. Er sieht verschlafen aus, als hätte er ein Nickerchen gemacht. Ich höre
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