Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
Moldawiens können es sich kaum leisten, die Schulen im Winter zu beheizen. Da liegt es mir fern, die Nase zu rümpfen, wenn die Schule nützliche Geschenke bekommt.
» Du hilfst mit, Moldawien ein bisschen besser zu machen, Schätzchen«, meint meine Tante, aber ich kann nur mit den Schultern zucken. Nein, ich habe Arbeit und werde dafür bezahlt und muss nicht meiner Schwester Nelly folgen, die ihr Glück in der Fremde sucht. Ich bin mehr der häusliche Typ und hab’s gern ruhig.
Nachdem ich Reste eingesammelt habe, die man wiederverwenden kann, nehme ich einen Lappen und staube den kleinen Fernseher ab, den alten DVD -Player, die geliebten abgegriffenen Bücher im Regal. Auch das verdanken wir der Großzügigkeit der transnistrischen Verbrecherbosse, würde mein Onkel sagen. Doch mir soll’s recht sein, solange die Menschen einen Nutzen davon haben. Die Bücher sind jedenfalls unschuldig.
Beim Staubwischen denke ich an Nelly und ihre großen Pläne. Nelly, die Abenteurerin, mit ihrem sonnigen Gemüt. Sie hatte mir die Broschüre vor einem halben Jahr gezeigt, von einer Arbeitsvermittlung in Bukarest im benachbarten Rumänien: fröhliche Frauen in eintönigen Uniformen, die an einem makellosen Schreibtisch mit einem neuen Computer sitzen und Papiere sortieren, die lächelnden Restaurantgästen das Essen servieren oder fein säuberlich Betten beziehen.
» Weißt du, sie brauchen Sekretärinnen, Zimmermädchen, Kellnerinnen und Kindermädchen«, erzählt mir Nelly. » Du könntest einen Job bekommen, wo du mit einem neuen Computer arbeitest.«
Ich sah mir die Werbebroschüre an. Moldawien ist das ärmste Land Europas. Alle Orte auf den Bildern wirken schöner, heller, hoffnungsvoller. » Ich will nicht nach Italien oder Israel oder in die Türkei gehen. Ich spreche die Sprachen nicht.«
» Aber dein Englisch ist gut. Für Englisch zahlen sie immer extra.« Nelly kaut am Radiergummi an ihrem Bleistift. » Vielleicht lerne ich in einem Hotel einen Geschäftsmann aus dem Westen kennen. Vielleicht einen Amerikaner. Einen netten Kerl mit einem guten Job. Amerikaner mögen osteuropäische Mädchen. Wenigstens das haben die Supermodels für uns getan.«
» Amerikaner reden nicht mit Zimmermädchen«, sage ich. Besser, ich nehme ihr gleich ihre Träume. Das tut man schließlich als gute Schwester. Ich gebe ihr die Broschüre zurück. Es macht mir Angst, dass Nelly Hunderte oder Tausende Kilometer entfernt arbeiten soll, in einem Job, der ihr keine Zeit mehr lässt, nach Hause zu kommen.
» Ich könnte euch Geld schicken«, meint Nelly.
» Nein.«
» Ich frag dich nicht um Erlaubnis.«
» Warum jetzt auf einmal?«, frage ich und verdrehe die Augen.
» Natalia ist in die Türkei gegangen und hat einen guten Job. Hier findet man ja keine Arbeit.«
» Ich bin immerhin Lehrerin geworden.«
» Dann sieh zu, dass die Kinder was lernen. Sie werden nämlich irgendwann aus Moldawien weggehen müssen, um einen Job zu finden«, erwidert Nelly.
Drei Wochen später ist sie fort. Abschied unter Tränen am Bahnhof. Nelly fährt mit dem Zug nach Chi ş inău, dann weiter nach Bukarest. Von dort fliegt sie nach Tel Aviv.
» Ich schreibe jeden Tag«, verspricht Nelly, umarmt Tante und Onkel und blickt über ihre Schulter zu mir zurück.
» Nein, tust du nicht«, sage ich. Nelly hat immer schon schnell geweint, ich nicht. Ich werde jetzt auch nicht damit anfangen. Aber es reißt mir fast das Herz in Stücke.
» Doch, ich tu’s!«, ruft Nelly. » Mir wird oft langweilig sein. Und ich muss ja schreiben, wenn ich euch Geld schicke.«
» Leih dir den BlackBerry von dem Geschäftsreisenden aus, den du kennenlernst«, scherze ich. » Und schick uns eine E-Mail.« BlackBerrys habe ich in Filmen gesehen. In Harpă hat niemand einen.
Nelly umarmt mich noch einmal, sie riecht ein bisschen nach Milch und Abschiedskuchen, dann ist sie weg.
Nachdem ich im Klassenzimmer abgestaubt habe, schaue ich einen Moment aus dem Fenster. Die Jungen spielen Fußball draußen im Hof. Mein Lieblingsschüler macht den Torwart. Ich seh den Jungs zu und erinnere mich an die Zeit, als ich mit Nelly im hohen Gras Fußball spielte. Nelly beklagte sich immer, dass ich zu scharf schieße, als wären ihre Beine aus Porzellan. Ich hatte wirklich einen strammen Schuss. Ich war eine gute Sportlerin, eine der Besten auf der Schule.
Nelly schreibt regelmäßig, doch sie schickt kein Geld, nur kurze Worte, dass es ihr gut gehe, in fahriger Handschrift, die
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