Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
Ja, kein Problem.«
Ich legte mich wieder hin.
» Sam?«
» Was?« Ich schlug die Augen auf. Ich fühlte mich, als wären Sandkörner in meine Haut eingedrungen.
Leonies Gesicht war ganz nah. Ich blinzelte verschlafen. Die Schmerzen ließen sich ertragen. Die Tablette schien zu wirken.
» Du tust mir leid, wirklich«, sagte sie leise.
Ich kann Mitleid nicht ausstehen. Das kommt aus der Zeit, als mich Mitschüler bedauerten, weil ich immer der Neue war, der neue Amerikaner, der die Sprache der Einheimischen nicht verstand, vor allem die Schimpfworte. » Nicht nötig.«
» Du hast dein Kind noch nicht einmal im Arm gehalten.«
Ich starrte an ihr vorbei in die Dunkelheit. Meine Haut juckte unter dem Gipsverband, wahrscheinlich die Stelle, wo Daniel liegen würde, wenn ich ihn endlich bei mir haben konnte.
» Die Zeit wird kommen«, sagte ich.
» Ja. Ich wünsch dir das so sehr. Es ist das wunderbarste Gefühl überhaupt. Nichts anderes löst eine solche Mischung aus Liebe, Angst und Hoffnung aus.«
» Klingt wie ein Werbespot, damit die Leute mehr Kinder bekommen.«
» Und wir zwei wären Vorbilder für alle alleinerziehenden Eltern.«
Ich lächelte im schwachen Licht, das von der Straße hereinfiel. » Mich sollte sich niemand zum Vorbild nehmen.«
Sie lag dicht neben mir, ohne sich an mich zu schmiegen. Für eine Minute hörte man nichts als unser Atmen, das leise Summen der Klimaanlage und das Rauschen der Stadt.
Ich drehte mich zu ihr, um etwas zu sagen– ich weiß nicht mehr was–, da küsste sie mich, sanft zuerst, dann drängender, mit hungrigen Lippen, die an meinen knabberten.
Das erste Mal war es aus Angst und Stress passiert. Und jetzt? Ich war halbtot, doch ich spürte, wie mein Blut zu pulsieren begann.
Ich schmeckte Salz: ihre Tränen.
» Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen«, sagte ich. Ich roch Zahncreme in ihrem Atem: Sie hatte sich die Zähne geputzt, bevor sie zu mir gekommen war.
» Hast du ja nicht.«
» Warum bist du allein mit deinem Kind?«
» Ich wollte allein sein.«
» Das glaub ich nicht. Niemand will allein sein.«
Ihre Hände waren auf meine Brust gewandert, ihre Fingernägel strichen über meine Haut und nahmen mir fast den Atem.
» Du brauchst deinen Arm nicht zu bewegen. Ich mach alles.« Sie küsste mich erneut. » Wie schlimm ist es?«
Die korrekte Antwort hätte gelautet: sehr– aber ich sagte: » Überhaupt nicht.«
Wahrscheinlich sollten zwei Leute, deren Kinder in Lebensgefahr schwebten, nicht miteinander schlafen. Wir waren völlig am Boden. Unfähig, etwas wirklich Schönes zusammen zu erleben.
Nein, es war nur eine rohe Energie, in der sich Wut und Frustration entluden. Als sie auf mir saß und sich dem Höhepunkt näherte, hämmerte sie auf meine Schultern ein, völlig vergessend, wie malträtiert und zerschunden ich war. Vielleicht täuschte sie ihren Orgasmus auch nur vor, und sie nutzte die Gelegenheit, um auf mich einzuprügeln.
Sie sank ermattet nieder, und ihr Körper fühlte sich wunderbar warm und weich an. Stille, in der nur unser Atmen zu hören war, mein Gesicht an ihrem Haar.
» Das war gut«, hauchte sie.
» Ja. Für mich sogar sehr«, sagte ich.
» Für mich auch sehr.« Sie nahm mein Gesicht in beide Hände. » Wir müssen sie zurückholen, Sam. Wir dürfen nicht scheitern.«
» Ich weiß. Ich weiß. Wir schaffen es.«
» Sag mir, was du vorhast.«
» Nein. Ich kann nicht.«
» Warum nicht?«
» Weil du Nein sagen würdest.«
» Ver… vertraust du mir nicht?« Ihr Atem strömte an meinen Hals, ihre Fingernägel wanderten über meine Brust.
» Doch.«
» Dann sag’s mir.«
» Morgen ist Jack Ming erledigt, und unsere Kinder werden bei uns sein. Okay?«
Sie legte sich neben mich, und wir atmeten dicht nebeneinander. Vermutlich hätte sie mich am liebsten geschlagen in ihrem hilflosen Zorn, doch sie brauchte mich funktionstüchtig. Also ließ sie mir meine Geheimnisse.
Während sie die ihren für sich behielt.
Ich stand auf, während sie schlief, zog mich trotz meiner Erschöpfung an und schlich in die Nacht hinaus.
76
Last Minute Bar, Manhattan, erster Stock
Das Summen von Sams Handy weckte Leonie. Sie tastete in dem leeren Bett nach ihm: Er war fort.
Sie setzte sich auf und nahm das Handy.
» Ja?«
» Leonie. Ich will Sam sprechen.« Sie kannte die Stimme nicht. Es war das Telefon, das ihnen Anna Tremaine als Verbindung zu Novem Soles gegeben hatte, um ihnen Anweisungen zu geben, doch es war nicht Anna,
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