Die letzte Nacht
Linsen waren Salviatis blaue Augen braun. Schal und Hut verdeckten einen großen Teil all dessen, sodass Francesca – einen kurzen Moment lang – Zweifel überkamen. Salviati war zehn Zentimeter größer, er hatte eine tiefere, ein wenig heisere Stimme. Er sprach hinter seinem Schal, aber es schien wirklich die Stimme Bellonis zu sein.
Es war eine Art Wunder.
Francesca versuchte, natürlich zu wirken. Das war nicht schwer, denn der Eindruck, vor Belloni zu stehen, war täuschend echt. Nicht einmal Locatelli bemerkte den Betrug. Das war der heikle Punkt bei der ganzen Geschichte: den Portier zu täuschen, der Belloni beinahe täglich zu Gesicht bekam. Aber Salviati hatte erklärt, dass man einem Fisch, der eine Fliege will, nur auf geschickte Weise eine Feder hinhalten muss, damit er sie für eine Fliege hält. Die Leute sehen das, was sie erwarten zu sehen.
Salviati betrat mit Melato und dem Leibwächter die Bank. Francesca sah, dass der alte Dieb denselben Schritt hatte wie Belloni. Unterm Arm trug er die Aktenmappe des Direktors. All die Aufnahmen von Filippo hatten einem bestimmten Zweck gedient: der absolut detailgetreuen Nachahmung. Salviati war wirklich ein Profi! Aber noch war es zu früh, um zu triumphieren.
»Ganz schön kalt, was?«, sagte Locatelli. »Zu Weihnachten gibt’s bestimmt Schnee!«
»Meinen Sie? Ach was! Laut Wettervorhersage soll es zu Weihnachten warm werden …«
»Nun, gute Frau«, Locatelli kicherte, »heute Morgen sind wir jedenfalls noch weit entfernt von warmen Weihnachten!«
»Das stimmt. Sagen Sie, wird der Direktor lange beschäftigt sein?«
»Es geht um ein wichtiges Geschäft, meine Dame.«
Locatelli begann, die Tür abzusperren.
»Vielleicht komme ich später noch mal vorbei, oder morgen. Morgen ist doch auch geöffnet, oder?«
»Aber natürlich, immer zu Ihren Diensten!« Locatelli deutete eine Verbeugung an. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag, Frau Cattaneo!«
»Auf Wiederschauen!«
Francesca entfernte sich. Nun würde Locatelli hineingehen, die Tür schließen und die Überwachungskameras anschalten. Die Außenkamera war bereits in Betrieb, aber Francesca hatte darauf geachtet, nicht ins Sichtfeld zu geraten. Dennoch hatte sie, Salviatis Anweisungen entsprechend, Schuhe mit versteckten Absätzen angezogen, sich stark geschminkt und einen breitkrempigen Hut aufgesetzt.
Mit ruhigen Schritten entfernte sie sich in Richtung Hecke. Auf der Straße sah sie den Audi mit Filippo Corti vorbeifahren. Sie wusste, dass Anna nicht weit war und die Hauptstraße im Blick behielt.
In diesem Augenblick lag alles in Salviatis Händen. Er musste das Geld an sich nehmen und zum Ausgang kommen. Auch Francescas Aufgabe war noch nicht zu Ende. Sie würde ihren Beitrag leisten, indem sie Locatelli auch beim Herauskommen ablenkte. Außerdem musste sie kurz danach noch einen weiteren Geheimauftrag ausführen, den ihr Salviati erst an diesem Morgen anvertraut hatte. Francesca hätte nie gedacht, dass ein Bankraub eine so einfache und gleichzeitig so komplizierte Sache war.
18
Die Nachbarin
Contini und Malaspina liefen zu Fuß vom Bahnhof Lugano nach Massagno. Malaspina hatte eine Thermoskanne mit Kaffee dabei. Trotz der eisigen Temperaturen trug er nur einen weiten grasgrünen Pullover und eine gelbe Jeans. Contini lief eilig, obwohl es keinen Grund mehr zur Eile gab. Der Banküberfall war bereits im Gange.
Er wusste seit mehreren Stunden, dass nichts mehr zu machen war. Seit Salviati in das Haus des Direktors eingedrungen, ihn und seine Frau betäubt, den Telefonstecker gezogen und Bellonis Kleidung sowie dessen Brille entwendet hatte. Seit die Operation Junker-Bank begonnen hatte, ohne dass es jemand ahnte und während der gesamte Kanton Tessin schlief. Contini vertraute zwar auf Jeans Pläne, fürchtete jedoch, dass Forster eine böse Überraschung bereithielt. Besser, man kam ihm zuvor.
»Hoffen wir, dass du recht hast«, murmelte Malaspina.
»Das wird sich jetzt zeigen«, sagte Contini. »Warte hier auf mich und behalte den Eingang im Blick. Auch den auf der Rückseite, du kannst ihn von hier aus sehen.«
»Okay. Aber beeil dich, wenn’s geht.«
Contini sah sich um. Die Via dei Sindacatori war menschenleer. In dem Haus gab es nur ein oder zwei erhellte Fenster.
»Und wenn jemand anderes herauskommt?«
»Das musst du dann sehen. Im Zweifelsfall verfolgst du ihn oder rufst mich an.«
Die Dunkelheit wich allmählich. Es war zwar noch nicht richtig hell, aber die
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