Die letzte Nacht
Häuser hatten schon klarere Umrisse, und die unbeleuchteten Teile zwischen den Straßenlaternen wurden grau. Contini vergewisserte sich, dass Malaspina die Beschreibung von Elton, sowie die von Lina und Matteo im Kopf hatte. Dann trat er auf die Eingangstür zu. Er wusste, welche Klingel er drücken musste.
»Oh, ich Ärmste!«, nahm ihn Anita Pedrini auf dem Treppenabsatz in Empfang. »Sie haben Glück, dass ich auch am Sonntag früh aufstehe!«
Für Contini war es gewissermaßen die offizielle Bestätigung. Er hatte sich nicht geirrt, sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen. Ihm genügte eine Frage, um sicher zu sein:
»Matteo ist also wieder da?«
»Reden wir nicht darüber, Herr …«
»Contini.«
»Reden wir nicht darüber, Herr Contini. Offenbar ist er krank! Ich habe praktisch nicht mehr mit ihm gesprochen, ich Ärmste, höchstens ein Guten Tag im Treppenhaus, mehr nicht!«
»Aber er wird doch nicht ganz allein sein …«
»Nein, nein, natürlich nicht, nein! Es sind immer diese beiden Pfleger da, eine junge Frau und ein kräftiger Kerl, der aussieht wie ein Boxer.«
»Eine Krankheit, sagen Sie? Und warum ist er nicht im Krankenhaus?«
»Ich weiß es nicht, ich Ärmste! Wissen Sie, heutzutage gibt es überall diese Heimpflegedienste, es wird etwas dergleichen sein …«
Der Hinweis war beinahe unsichtbar. Zwei kleine Worte, eine dieser Wendungen, die sich dir im Kopf festsetzen. »Ich Ärmste!« So wie manche »gütiger Himmel« oder »also« sagen. Matteo Marelli hatte so getan, als gäbe er ihm einen Hinweis mit dem ersten Glockenschlag, dabei hatte er ihn kurz darauf, mit dem zweiten Schlag folgen lassen, als niemand mehr zuhörte. Der Detektiv hatte das Gespräch genau im Kopf.
MARELLI : Auch jetzt, da wir an den Anfang zurückgekehrt sind, jetzt, wo wir warten müssen …
ELTON : Was sagst du da?
MARELLI : Jetzt, wo wir da sind, wo alles noch vor uns liegt, jetzt, da wir dort gefangen sind, wo …
ELTON : He!
Aber das war noch nicht der Knackpunkt. Marelli hatte Elton gegenüber so getan, als wolle er den Ort ihrer Gefangenschaft verraten. In Wahrheit hatte er ihn bloß ablenken wollen, um besser zum Schlag ausholen zu können.
MARELLI : Oh, ich Ärmster, ich Ärmster … hab ich etwa zu viel gesagt?
ELTON : Was soll das?
»Ich Ärmster«: Das war der Schlüssel. Marelli hatte auf die Redeweise seiner Nachbarin angespielt, einen Ausdruck verwendet, der aus seinem Mund sehr unpassend klang. Aber niemand hatte es bemerkt, nicht einmal Contini. Obwohl Contini in Marellis Wohnung in der Via dei Sindacatori in Massagno gewesen war und mit Anita Pedrini gesprochen hatte, die ihm innerhalb von fünf Minuten mindestens ein Dutzend Mal mit »ich Ärmste« gekommen war.
Natürlich ist es nicht leicht, eine Erinnerung zutage zu fördern, die im Gedächtnis vergraben liegt. Schon deshalb, weil Continis Aufmerksamkeit, ebenso wie die von Elton, auf die vorangehenden Sätze gerichtet war, die keinen ausreichenden Hinweis lieferten. Auch wenn es in gewisser Weise stimmte, dass sie »an den Anfang zurückgekehrt« waren, wo alles noch vor ihnen lag. Sie waren in Matteo Marellis Wohnung zurückgekehrt, wo er friedlich gelebt hatte, bevor er anfing, den großen Gangster zu spielen.
Forsters Idee war gut. Keiner hätte ausgerechnet in der Wohnung einer der beiden Geiseln nach diesen gesucht. Aber zum Glück war in Continis Gedächtnis noch etwas in Bewegung geraten, als er selbst nicht mehr daran geglaubt hatte.
Und nun? Nun, dachte Contini, darf ich keinen Fehler mehr machen. Ein falscher Schritt bei der Befreiung der beiden Geiseln konnte sich auch auf den Überfall auswirken und Jean, Francesca und die anderen in Bellinzona in Schwierigkeiten bringen. In der Wohnung gegenüber befand sich Elton mit den beiden Gefangenen. Und er würde sie sich nicht vor der Nase wegschnappen lassen. Contini konnte nicht einfach eindringen. Er hätte das Türschloss knacken können, das nötige Werkzeug dazu hatte er. Aber wenn es eine Sicherheitsverriegelung gab, war das sinnlos. Er musste sich etwas anderes ausdenken.
Vielleicht konnte er auf die Zusammenarbeit mit der Nachbarin zählen. Da er ihr offenbar einigermaßen sympathisch war, versuchte er, sich das zunutze zu machen, und tischte ihr eine beschönigende Version der Geschichte auf. Während Anita Pedrini Kaffee kochte, erklärte ihr Contini, dass Matteo von einem Kerl gefangen gehalten wurde, dem er Geld schuldete, und der ihn so lange nicht freilassen
Weitere Kostenlose Bücher