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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Jean hatte recht. Rechtsempfinden ist eine tiefverwurzelte Angelegenheit, auch wenn man nicht darüber nachdenkt. Es ist nicht einfach, die Hand nach einem Sparschwein auszustrecken und dann mit dem Geld zu flüchten.
    »Nein, ich bin kein Dieb.«
    Das ganze System ist auf Selbstverteidigung ausgerichtet. Privateigentum, der Schutz des Bürgers. Die Struktur der Gesellschaft, des Staates, der Eidgenossenschaft und der ganzen Welt.
    »Aber du auch nicht, Jean, du bist auch kein Dieb, nicht mehr.«
    »Von wegen. Ich habe versucht, was zu verändern, aber du siehst ja, wo ich gelandet bin.«
    »Das ist nicht deine Schuld.«
    »Wir haben Forster in Tesserete überrascht. Wenn wir ihn, anstatt zu fliehen …«
    »Was hättest du tun wollen, ihn foltern? Ihn entführen?«
    »Vielleicht ein Austausch.«
    »Entführung ist schlimmer als Raub. Und Forster hat eine Menge Freunde.«
    »Du hast recht.« Salviati nickte. »Bleibt die Tatsache, dass du kein Dieb bist.«
    Malaspina hielt die Kaffeetasse in den Händen, sah die beiden Männer an und sagte kein Wort. Er sah aus wie eine rot und grasgrün angemalte Sphinx.
    »Das macht nichts.« Contini goss sich Kaffee nach. »Das macht nichts.«
    Ein paar Sekunden schwiegen alle. Contini sah in den Wald hinaus und lauschte den Geräuschen nach, den unmerklichen nächtlichen Existenzen. Er dachte an die Füchse, an seine Füchse im schützenden Dickicht des Sommers. An ihre Augen. Die lauernd in die Dunkelheit starrten. Vor dem Angriff oder vor der Flucht.
    »Das macht nichts«, wiederholte Contini. »Ich bin kein Dieb, aber ich kann stehlen.«
    Salviati musterte ihn aufmerksam.
    »Willst du damit sagen, dass …«
    »Ich will damit sagen, lass uns diese Bank überfallen! Du wirst schon wissen, wie, oder?«
    Salviati stellte die Kaffeetasse ab. Hinter den blauen Flecken und Wunden, zwischen den Falten seines Gesichts, zeichnete sich langsam ein Lächeln ab.

13
Wenn die Freiheit endet
    Contini ließ die Flöße in den Bach gleiten. Eines nach dem anderen wurde von der Strömung, den Strudeln des Tresalti, erfasst, prallte gegen die Steine und begann schließlich seinen Weg ins Tal.
    Weiter unten, neben Continis Haus, bildete der Bach ein kleines Becken. Nicht alle Flöße würden heil dort unten ankommen. Einige würden unterwegs verloren gehen, an einer seichten Stelle im Grund stecken bleiben oder sich zwischen den Steinen verkeilen. Contini fertigte die Flöße aus Holz, Nägeln und Schnur. Dann warf er eine bestimmte Anzahl in den Tresalti und zählte, wie viele das Sammelbecken erreichten. Aus all dem zog er Voraussagen und Vorwarnungen.
    Eine Marotte, Aberglauben? Contini dachte nicht darüber nach. Für ihn war es ein Zeitvertreib. Nicht alberner als Golfspielen, nicht nutzloser als Briefmarkensammeln.
    An diesem Tag ließ er fünf Flöße zu Wasser, während er darüber nachdachte, dass es Zeit war, Francesca die ganze Angelegenheit mit dem Bankraub zu erklären. Sie hatten sich in den letzten Tagen wenig gesehen. Francesca war ein paar Tage in Mailand gewesen: Sie hatte erst vor Kurzem ihr Philologiestudium abgeschlossen und die kleine Wohnung in der Nähe der Uni noch nicht aufgegeben. Aber im Herbst wollte sie zurück ins Tessin. Sie würde sich eine Stelle als Lehrerin suchen.
    Nachdem er seine Flöße gestartet hatte, ging er nach Hause. Es war noch früh am Morgen, aber gen Süden stieg bereits schwüler Dunst aus dem Tal empor.
    Contini und Francesca waren seit einigen Jahren zusammen und hatten schon einige Höhen und Tiefen durchlebt. Vielleicht, weil der Detektivberuf einer Gefühlsbindung nicht dienlich ist. Und auch ein Bankraub ist es nicht, dachte er, während er den Napf des grauen Katers füllte.
    Aber du steckst mittendrin, Contini, du musst da durch. Der Detektiv sah zu dem Kater hinunter. Hör zu, spar dir deine klugen Sprüche. Was willst du, für einen Kater gehört Raub zum Leben … du kommst einen Schritt voran, Detektiv. Der Kater fing an zu fressen und zu schnurren.
    Einen Schritt voran? Contini bezweifelte das. Für manche war Bankraub ein Angriff auf das System. Oder auch Ausdruck von Lebenskraft, Freiheitsdrang. Aber nicht für ihn. Für ihn bedeutete Freiheit nicht Flucht oder das Überschreiten von Grenzen, sondern die Möglichkeit, zu suchen und zu finden.
    Das Wohnzimmer war vollgestopft mit Gegenständen. Um ans Telefon zu gelangen, musste Contini einen violetten Fahrradrahmen, eine große Weltkarte und einen Keramik-Orang-Utan

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