Die letzte Nacht
eben in der Hütte zurückgelassen, wo er damit beschäftigt war, Feuer zu machen. Lina tat so, als habe sie etwas vergessen, und kehrte um.
Die Angst beherrschte jede Geste, jedes Wort. Nicht einmal einen Spaziergang konnte sie sich herausnehmen. Aber weshalb ließ sie sich so in die Irre führen? Ein knackender Zweig, und sie drehte durch! Was sollte erst werden, wenn wirklich einer im Wald war, dachte sie, und … wenn nun wirklich einer da war?
Sie verlangsamte ihre Schritte und versuchte, sich zu beruhigen. Aber in diesem Augenblick legte ihr jemand die Hand auf die Schulter. Lina erstarrte.
»Wo willst du hin?«
Sie erkannte die Stimme nicht, aber sie war sich sicher, sie schon einmal gehört zu haben.
»Du hast nicht damit gerechnet, mich hier oben zu treffen, stimmt’s?«
Mehr noch als die Stimme, war es diese seltsame Art zu sprechen. Lina drehte sich um, sie wusste, wen sie zu Gesicht bekommen würde: Elton, Luca Forsters Bodyguard. Die Angst wich der Wut.
»Was machst du hier?«
»Ich komme im Auftrag von Signor Forster.« Elton lächelte. »Mach einen Ausflug in die Berge, hat er zu mir gesagt, und sieh nach, ob es den beiden gut geht.«
Elton wählte seine Worte mit Sorgfalt und achtete genau darauf, was er sagte. Aber Lina ließ sich nicht täuschen. Hinter dem sanften Tonfall verbarg sich eine Drohung. Forster wollte ihnen ins Gedächtnis rufen, wer der Chef war. Er hielt einen Goldesel am Strick und hatte nicht die Absicht, ihn entkommen zu lassen.
Während sie den schmalen Pfad zur Sennhütte hinaufliefen, plauderte Elton freundlich über dies und das. Lina schwieg. Zum einen, weil sie außer Atem war, zum andern, weil sie über die vergangenen Tage nachdachte. Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Matteo empfing Elton mit einem verkniffenen Lächeln.
»Du hättest dich nicht zu bemühen brauchen.«
»Ich bitte dich!« Der Gorilla grinste über das ganze Gesicht. »Ein paar Schritte in höheren Lagen sind gut für den Kreislauf!«
Lina und Matteo hatten noch nicht gegessen. Nun waren sie genötigt, ihr Mittagessen mit Elton zu teilen. Ein düsteres Mahl: verkochte Spaghetti und Bemerkungen über die gesunde Luft der Gebirgstäler. Bis Elton verkündete, dass er, wie immer nach dem Essen, ein Schläfchen halten werde.
»Gibt es einen freien Schlafplatz?«, fragte er, während er sich vom Tisch erhob.
Warum, zum Teufel, muss er »Schlafplatz« sagen? Lina war zu wütend, um zu antworten. Matteo erklärte ihm, dass es nur zwei Feldbetten gäbe, in den Zimmerecken, von einem Paravent verdeckt.
»Ich bitte dich, mir vorläufig dein Lager zu überlassen«, sagte Elton. »Für die Zukunft werden wir uns um ein weiteres kümmern.«
»Für die Zukunft?«, fragte Matteo.
»Signor Forster hat mich gebeten, ein paar Tage hier oben bei euch zu bleiben. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen.«
Weder Matteo noch Lina hatten die Kraft, zu antworten. Während Elton schlief, traten sie vor die Tür. Der Duft nach sonnenbeschienenem Gras weckte in Lina vage Erinnerungen an Kindheitssommer.
»Wir müssen fliehen«, flüsterte sie Matteo zu.
Er nickte mit düsterer Miene. Lina kam näher an ihn heran und suchte seinen Blick.
»Zweifelst du noch? Glaubst du, Forster wird das erbeutete Geld mit uns teilen?«
»Du zahlst ihm zuerst deine Schulden, und was dann übrig bleibt, wird fair geteilt: eine Hälfte er, eine Hälfte wir.«
»Und du glaubst daran?«
Matteo schloss sie in die Arme.
»Lina, ich …«
»Worauf haben wir uns da bloß eingelassen, jetzt sieht man, was dabei rauskommt!«
Sie umarmten sich und blieben dicht aneinandergedrängt, an die Hüttenwand gelehnt, stehen. Lina kam es vor, als würde sie Matteo schon ein ganzes Leben lang kennen. Dabei waren es erst wenige Tage. Als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte er auf sie wie ein junger Dandy gewirkt, der bei Frauen gern Eindruck schindet. Aber er war nur ein verängstigter Junge. Wer hätte das gedacht. Und sie beide waren gezwungen, einen wenige Quadratmeter großen Raum mit diesem Elton zu teilen. Sie, er und eine Art höflicher Killer im Maßanzug.
»Matteo, warum fliehen wir nicht?«
»Das ist zu gefährlich. Wenn er uns entdeckt, macht er uns kalt.«
»Und was sollen wir sonst tun?«
»Abwarten, bis dein Vater diesen Überfall durchzieht.«
»Und wenn er’s nicht schafft?«
»Wenn er’s nicht schafft, wird Forster wahrscheinlich ziemlich ungemütlich werden.«
Lina schauderte.
»Und glaubst du …«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher