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Die letzte Nacht

Die letzte Nacht

Titel: Die letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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spazieren. Die selbstbewussten Frauen und die Männer mit ihren pastellfarbenen Krawatten in der Bahnhofstrasse bildeten einen starken Gegensatz zu Raspellis Wohnviertel. Er kam sich vor wie in einer anderen Stadt, einer anderen Welt.
    Erst als er auf den Paradeplatz kam, spürte Salviati, dass diese Welt nicht allzu weit von Raspellis flinken Augen entfernt lag. Er sah die Leuchtschriften an den Gebäuden, wie Standarten auf einem mittelalterlichen Schlachtfeld. UBP , VP Bank, Züricher Kantonalbank, UBS , Crédit Suisse, Clariden Leu, Julius Baer. Geschichtsträchtige Mauern – stabile, schmucklose Gebäude, auf die sich die Schweiz gründete und die sie am Laufen hielt.
    Aber jede große Hymne hat ihren kleinen Missklang. Und auf diesen glänzenden Fluren, zwischen immergrünen Pflanzen und zeitgenössischen Kunstwerken, strichen auch diverse Giotto Raspellis herum. Vor allem in Zeiten der Krise. Es gibt immer jemanden, der im Hinterhalt lauert, bereit, sich auf die Beute zu stürzen, sobald sie am Abend zur Wasserstelle kommt.
    Und Salviati? Er suchte nach den Männern und Frauen, er konnte sie erkennen hinter den Computern, den Synergien, den Grafiken und Brainstormings. Er erkannte die Zeichen von Schwäche. Und im richtigen Augenblick konnte er zuschlagen. Gerade in diesem Augenblick, als er die Trams beobachtete und die Leute, die ein- und ausstiegen, kam ihm eine vage Idee. Das erste Mal seit vielen Tagen verspürte er Erleichterung. Vielleicht würde es ihm gelingen. Vielleicht gab es einen Weg, um Lina zu befreien und sich sauber aus der Affäre zu ziehen.

16
Ein nächtlicher Angriff der Blackfoot
    »Lina hat mich angerufen.«
    Contini sah ihn an.
    »Wann?«
    »Gestern«, erwiderte Salviati, »in Zürich. Ich habe einen meiner alten Kontakte aufgesucht, als ich bei ihm war, hat das Telefon geklingelt.«
    »Wie geht es ihr?«
    »Sie hat nicht viel gesagt.«
    »Hat sie Matteo Marelli erwähnt?«
    »Nein. Aber ich glaube, er ist bei ihr.«
    »Hm.«
    Contini nahm einen Schluck Rotwein. Sie saßen im Grotto Pepito, in Corvesco, an einem Steintisch. Das Lokal lag am Waldrand, unterhalb eines Felsens, in dem sich zahlreiche Kellergewölbe befanden. Hier herrschte immer ein leichter Luftzug, selbst an den ganz heißen Tagen, man aß Salami und Käse und trank dazu einen Becher Wein aus der Gegend.
    »Ich finde Marelli merkwürdig«, sagte Contini. »Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Entführung.«
    »Und was? Lina hat gesagt, dass man sie gut behandelt!«
    »Ich glaube, Forster hat Marelli reingelegt oder er erpresst ihn mit irgendwas. Meiner Meinung nach sind er und deine Tochter in derselben Situation.«
    »Also Gefangene?«
    »Wer weiß. Es ist nur so ein Gefühl. Ich hab’s jedenfalls nicht aufgegeben, nach ihnen zu suchen. Alle Gerüchte, die mir zu Ohren gekommen sind, führen ins Bavonatal.«
    »Das Bavonatal ist zwar nicht gerade groß … aber du kannst es nicht vollständig durchkämmen!«
    In diesem Augenblick kam der Wirt. Er hieß Giocondo Bottecchi und war der Enkel von Pepito, dem Gründer des Grotto.
    »Bitte sehr«, sagte er, und stellte einen Teller mit gemischtem Aufschnitt und Salami auf den Tisch. »Wollt ihr noch etwas Wein?«
    Hinter seinem schwarzen Schnauzbart musterte Giocondo die beiden Männer und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Contini war eher ein Einzelgänger: Er verstand sich gut mit den Leuten aus dem Dorf, suchte aber keine allzu große Nähe. Diesen Kerl mit dem faltigen Gesicht behandelte er dagegen wie einen aus der Familie. Ob sie verwandt waren?
    In Corvesco sind die Leute neugierig, aber nicht aufdringlich. Giocondo fragte nicht nach, und Contini bestellte einen weiteren Viertelliter.
    »Ein schönes Plätzchen«, meinte Salviati.
    »Ja«, antwortete Contini, während er Wein einschenkte. »Ich komm oft hierher.«
    »Weißt du, was ich denke, Elia … dass wir uns ohne diese Geschichte nie wiedergesehen hätten.«
    »Schon möglich.«
    »Abgesehen davon find ich’s schon seltsam, dass wir uns vor Jahren in dieser Villa begegnet sind. Wir haben damals einiges riskiert …«
    »Tun wir diesmal auch«, sagte Contini.
    Salviati breitete die Arme aus, als wolle er sagen: Was sollen wir machen?
    Sie hatten in all den Jahren nur sporadisch Kontakt gehabt. Hin und wieder waren sie sich begegnet, hin und wieder hatten sie voneinander hören lassen. Aber es gab da etwas zwischen ihnen, das nie abgerissen war. Es war keine Ähnlichkeit und auch kein gegenseitiges

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