Die letzte Nacht
darüber nicht, aber ich weiß, dass sie sich Sorgen macht. Ich versuche, mich davon nicht erdrücken, mich von dem Gedanken an den Bankraub nicht beherrschen zu lassen.
Ich habe mich aus freien Stücken dazu entschlossen, Jean zu helfen.
Es ist eine merkwürdige Zeit. Stellen Sie sich vor, letzte Nacht habe ich sogar einen Traum gehabt, etwas, das mir sonst nie passiert! Es waren absurde Bilder, wie in einem Film, aber ich kannte die Figuren nicht. Er handelte von einer jungen europäischen Frau, die nach jahrelanger Abwesenheit in ein asiatisches Land zurückkehrt. Plötzlich sehe ich sie als Kind, in typischer Tracht, wie sie mich anstarrt und eine Art traditionellen Tanz vorführt. Dann ist sie wieder die junge Frau von heute, vielbeschäftigt, aber begierig, die Orte wiederzusehen, wo sie einst mit ihrem Vater, einem Diplomaten, lebte. Wer war diese Frau? Und woher kenne ich ihren Vater, den Diplomaten? Und vor allem, was hat dieser Traum mit meinem Leben zu tun?
Contini fügte dem Brief ein paar weitere Zeilen hinzu, dann unterzeichnete er und schrieb eine Adresse auf den Umschlag. Er saß in der Mitte des Zimmers, das er, unweit von Kollers Haus, gemietet hatte. Ein leerer Raum mit einem Klappstuhl und einem Campingtischchen als einzigen Einrichtungsgegenständen. Auf dem Tischchen befanden sich Papiere, Stifte, eine leere Bierflasche und der Bildschirm, auf dem das starre Bild von Kollers Schreibtisch flirrte.
Contini erhob sich. Es war fünf Uhr nachmittags. Koller würde in wenigen Minuten nach Hause kommen, und er würde mit der Überwachung beginnen müssen.
Aber zuvor wollte er den Brief abschicken.
Seit Jahren schrieb Contini diese Briefe, ein Mal im Monat, zeitweise auch öfters. Nicht einmal Francesca, nicht einmal seine Freunde kannten den Namen des Empfängers. Wenn man ihn direkt danach fragte, vermied er eine Antwort. So nannten seine Freunde diese Schreiben schließlich: Briefe an niemanden.
Zürich war in diesen Tagen ein Wechselspiel von Grautönen vor grauem Hintergrund, mit grauen Bewegungslinien von einem Ende der Stadt zum andern. Contini zog die Regenjacke über, setzte sich einen Hut auf den Kopf und trat hinaus in den Regen, um das Gelb eines Briefkastens zu suchen.
»Du darfst es niemals nach zehn Uhr früh und nie vor vier Uhr am Nachmittag tun.«
»Was denn?«
»Eine frischgetriebene Pflanze umsetzen«, erklärte Salviati und nahm die Mütze vom Kopf, um sich den Schweiß abzuwischen.
»Und warum nicht?«, fragte Francesca.
»Weil es eben so ist.«
»Aha.«
»Es darf kein Wind gehen, und der Himmel sollte möglichst grau sein.«
Francesca sah auf. Große Wolken trieben vorbei. Der Himmel war nahezu vollständig bedeckt. Nach langen Sonnentagen zogen von Norden die Regengüsse heran. Sie schaute zu Salviati, der in dem Garten der von ihm gemieteten Wohnung auf dem Monte Ceneri zu retten versuchte, was zu retten war.
»Aber du hast dir gar keinen so üblen Ort ausgesucht«, sagte sie. »Abgesehen davon, dass wir ziemlich weitab vom Schuss sind, könnte man hier glatt leben.«
Am Rand des Gartens, der ein wenig felsig war, hatte Salviati ein Beet mit Pfingstrosen und Glockenblumen angelegt. An der Hauswand hatte er in einer Reihe Lavendel gepflanzt, und nun war er damit beschäftigt, noch einige Geranien dazwischenzusetzen.
»Der Boden ist nicht gut«, murmelte er, während er einen Wurzelballen entwirrte.
»Und wieso?«
»Zu kalkhaltig. Die Hortensien dort waren schon vor meinem Einzug da, und sie sind, wie du siehst, viel zu rosafarben.«
»Aha.«
»Auch die Blätter sind blass, Eisenmangel. Aber ich hoffe, die Geranien schaffen es. Ich habe versucht, möglichst viel Mutterboden mitzunehmen …«
»Mutterboden?«
»Ja, siehst du?« Salviati deutete auf einen offenen Sack neben sich. »Das ist die Erde, die in den Geranientöpfen war. Wenn du sie umpflanzt, musst du ein bisschen von der alten Erde drumherum verteilen. Dann hat die Pflanze kein Heimweh.«
Francesca lächelte.
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Nein, ich meine es ernst.«
Francesca saß auf einem abgenutzten Eisenstuhl. Das Haus war modern; aber alles ringsum, vom Nussbaumwäldchen bis zu der dicht bewachsenen Wiese, wirkte altertümlich, so als sei die Zeit hier stehen geblieben. Salviati hatte Farbtupfer aufleuchten lassen, hatte die Zweige der Nussbäume beschnitten und die Hecke am Ende des Gartens gestutzt. Francesca fragte sich, wie man zwei so unterschiedliche Dinge wie Raubüberfälle
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