Die letzte Nacht
Einzige, wovor sie weit und breit Angst haben musste, Elton war. Elton und seine Pistole. Dennoch fühlte sie sich von tausend Augen beobachtet. Ein Heer in der Dunkelheit, bereit sie zu verschlingen, ein Heer gieriger Mäuler und roter Augen, Hände, die darauf lauerten zuzupacken …
Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren. An Elton zu denken. Sie hatte einen Schuss gehört, dann Matteo, der aufgeschrien hatte, ein Geräusch von zerbrochenen Zweigen und danach Elton, der durch den Wald lief.
Aber jetzt hörte sie nichts mehr.
Besser gesagt, sie hörte in gewisser Weise alles. Rascheln. Steine, die einen Abhang hinunterkollerten. Schritte auf trockenem Laub. Stimmen aus den Tiefen der Erde, mitten im Wald, und vom Wind verzerrtes Weinen und Gelächter. So geht das nicht. Du musst ruhig bleiben. Die Dunkelheit weitete den Raum im Wald, erdrückte sie aber gleichzeitig.
»Lina! Lina, komm raus. Ich bin hier mit Marelli!«
Elton. Mit einem Schlag wich die Angst vor der Dunkelheit. Das hier war kein Zauberwald, dennoch war der Wolf gefährlich nahe. Was sollte sie tun? Sie schob die Hand in die Tasche und schlug sich in Gedanken an die Stirn. Das Handy! Beinahe hätte sie es vergessen!
Sie zog es heraus, schaltete es an und wählte die Nummer ihres Vaters. Nichts, das Telefon war ausgeschaltet. Was tun? Wen sollte sie mitten in der Nacht anrufen? Continis Nummer hatte Matteo, und natürlich konnte sie sich schlecht bei der Polizei melden und erzählen, dass ihr Vater gerade einen Bankraub organisierte.
Eine SMS. Sie konnte ihm eine Nachricht schicken.
Hastig gab sie die Worte ein, ohne hinzusehen. Sie hörte Eltons Stimme, die nach ihr rief und sich anhörte, als würde sie aus verschiedenen Richtungen kommen.
WIE RIND IM CAVONA
Piep. Die Tastatur blockierte. Scheiße. Die Wörter waren nicht im T9-Wörterbuch. Sie löschte alles. Während sie schrieb, sah sie auf das Display.
WIR SIND IM BAVONATAL IM WALD OBERHLAB VON SONLERTO
Die Worte »Bavonatal« und »Sonlerto« musste sie beinahe Buchstabe für Buchstabe eingeben. Sie sah auf und inspizierte die Dunkelheit ringsum. Unterdessen tippte sie weiter, ohne auf Fehler zu achten.
WIR SIND IM BAVONATAL IM WALD OBERHLAB VON SONLERTO UND MATTEOS PLAN GEFANGEN IN EINER HÜTTE KÖNNEN NICHT FLIEHEN BEI UNS IST EIN WÄCHTER DER ELTON HEISST
Fertig. Sie las den Text nicht noch einmal durch. Sie drückte beinahe im selben Moment auf »senden« als sie, wenige Schritte entfernt, Eltons schweren Atem hörte. Sie rührte sich nicht, aber er hatte sie gesehen. Er stürzte sich auf sie und drückte ihr die Pistole in die Seite, riss ihr das Handy aus der Hand und stieß sie vor sich her. Sie fragte:
»Was hast du mit Matteo gemacht?«
»Er lebt noch, keine Sorge. Er hat vermutlich ein wenig Kopfweh … aber das wird ihm schnell vergehen.«
»Was hast du mit ihm gemacht?«
»Vorwärts!« Elton stieß sie weiter. »Wir müssen los.«
»Los? Aber …«
»Glaubst du, ich will hierbleiben, nachdem du Alarm geschlagen hast?«
»Aber …«
»Auf jetzt!«
Sie waren wie ein Tanzpaar.
Sie tanzten die Glanznummer ihres Repertoires. Sie machten keinen Fehler. Beide hatten ein absolut sicheres Rhythmusgefühl und wussten genau, welche Schritte sie ausführen mussten.
Auf dem schwarzen Ledersofa schmiegte sich Viola eng an Koller. Sie ließ sich einen Whiskey mit viel Eis einschenken und reichte ihm selbst ein gefülltes Glas ohne Eis. Dann reichte sie ihm ein zweites, präpariertes. Nicht zu viel Schlafmittel, nur das bisschen, das genügte, um sein Reaktionsvermögen zu vermindern, ihn träge und lichtempfindlich werden zu lassen.
Salviati fand Kollers Büro im oberen Stockwerk. Er entdeckte den Safe in der Wand hinter dem Schreibtisch, aber er befand, dass es besser sei, den Computer im Auge zu behalten. Neben dem Schreibtisch an der Wand hing eine Pendeluhr. Er öffnete die Glastür und machte an der schwarzen Stelle in der Mitte des Ziffernblatts eine zwei Millimeter breite Vertiefung. Dann befestigte er die Mikrokamera mit etwas Sekundenkleber, wobei er das Pinhole-Objektiv auf die Computertastatur richtete.
Viola streichelte unterdessen zärtlich Koller, der über starke Kopfschmerzen klagte. Sie küsste ihn auf die Wange und flüsterte ihm etwas auf Italienisch ins Ohr. Er schien den Klang zu mögen.
Salviati versteckte den Minisender im unteren Teil des Pendels, wo das Gewicht hing. Dort befestigte er auch die flexible Antenne und das hochempfindliche Mikrofon. Nicht,
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