Die letzte Nacht
vorgesagt haben.
»Was für Elemente?«
»Ich weiß nicht … Dinge oder Gegenstände. Oder Personen, also die Lebenselemente.«
Filippo zog die Augenbrauen hoch.
»Die Lebenselemente?«
Sheila senkte den Blick wieder zu den Schuhen. Filippo strich sich mit einer Hand durch den Bart und rief sich die Definition ins Gedächtnis zurück.
»Eine chemische Reaktion ist die Umwandlung von Materie ohne messbare Veränderung der Masse. Und was geschieht dabei genau?«
»Die Atome verändern sich!«, rief einer in die Klasse.
Filippo zog eine Grimasse. Er hätte ein Aspirin nehmen sollen.
»Doch nicht die Atome! Bei der Umwandlung verändern eine oder mehrere Reagenzien ihre Struktur und ursprüngliche Zusammensetzung und bringen die Produkte hervor. Aber aufgepasst: Die chemische Reaktion führt nicht zu einer Veränderung der Materie als solcher, sie betrifft nur die verschiedenen Verbindungen der Atome untereinander. Habt ihr das verstanden?«
Niemand antwortete. Filippo seufzte. Er sah aus dem Fenster. Dann drehte er sich um, und in diesem Augenblick erkannte er hinter der Scheibe in der Tür das gebräunte Gesicht Jean Salviatis. Die Verabredung, dachte er. Scheiße, er war mit ihm verabredet gewesen!
Er hatte an diesem Morgen um zehn begonnen und ganz vergessen, dass er um acht Salviati vor der Junker-Bank treffen wollte. Eilig brachte er die Stunde hinter sich und gab als Hausaufgabe für die kommende Woche auf, mindestens drei Beispiele für eine chemische Reaktion zu finden.
Als es klingelte, war Salviati verschwunden. Filippo fand ihn am Ausgang, auf einer Bank vor der Schule.
»Tut mir leid, dass ich reingekommen bin«, sagte er, »ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Ob alles in Ordnung ist?«, wiederholte Filippo und setzte sich neben ihn. »Was meinst du damit?«
»Man kann nie wissen. Heute Morgen warst du nicht da.«
»Ich hab’s vergessen. Aber was dachtest du, das passiert sei?«
»Man kann nie wissen.«
Filippo wurde allmählich unruhig.
»Es ist jedenfalls gar kein Problem. Du kannst ruhig zu mir in die Schule kommen, wenn du willst. Noch haben wir … noch haben wir …«
Er unterbrach sich. Er brachte es nicht über die Lippen. »Noch haben wir keine Bank ausgeraubt.« Filippo machte seiner Frau Vorhaltungen, aber auch er selbst konnte diese Geschichte nicht richtig ernst nehmen.
»Nicht so wichtig. Es war nichts Dringendes. Wir haben Zeit bis Dezember.«
Filippo erhob sich. Er durfte Salviati nicht böse sein. Es war nicht seine Schuld, dass sie in zwei verschiedenen Welten lebten. Er deutete auf den Parkplatz und sagte:
»Komm, mein Wagen steht dort.«
»Hast du eine Videokamera aufgetrieben?«, erkundigte sich Salviati, als sie im Auto saßen.
»Ja, auch wenn du mir noch nicht verraten hast, wozu wir sie brauchen.«
»Wir müssen Informationen sammeln.«
»Und dein Plan? Wann erklärst du ihn uns?«
Filippo gab sich alle Mühe, so zu sprechen, als sei alles normal. Als würden sie nicht über einen Banküberfall, sondern über einen Vortrag in der Pfarrgemeinde reden.
»Ich habe darüber nachgedacht, als ich draußen vor deinem Klassenzimmer stand.« Salviati deutete ein Lächeln an. »Es kam mir in den Kopf, als ich dich sprechen hörte.«
»Und was habe ich gesagt?«
»Ach, irgendwas über Chemie. Aber bevor ich mit euch darüber spreche, muss ich noch ein paar Dinge überprüfen. Dann vereinbaren wir ein Treffen.«
»Einverstanden. Wo willst du jetzt hin?«
»Zur Bank.«
»Okay.«
Filippo galt als geduldiger Mensch. Vielleicht weil er an der Oberschule unterrichtete. Vielleicht auch wegen seines Bartes, der seinen Gesichtsausdruck manchmal nur erahnen ließ. Aber innerlich verspürte er hin und wieder das Bedürfnis, sich gehenzulassen. Eine patzige Antwort zu geben. In diesem Augenblick hätte er Jean am liebsten an den Schultern gepackt und ihm gesagt: Ich tue etwas Illegales, für dich, ist dir das klar, etwas Illegales, ich, der ich mit fünfzehn einen Comic gestohlen habe und seitdem nie wieder auf die Idee gekommen bin zu …
Aber die aufschäumende Wut verpuffte, noch ehe er ihr Ausdruck verliehen hatte. Filippo konnte seinen Zorn zurückhalten, immer er selbst bleiben. Er verlor nicht gern die Kontrolle.
»Weißt du, Jean, diese Geschichte mit dem Bankraub gibt viel Anlass zum Nachdenken.«
»Fühlt ihr euch der Sache nicht gewachsen?«, fragte Salviati prompt.
»Es ist nicht so einfach für uns. Am Anfang haben wir alles als ein Spiel
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