Die letzte Nacht
dass man Höhen und Tiefen durchlebte, aber in der letzten Zeit hatte sich Anna ein wenig Sorgen gemacht. Filippo akzeptierte es nicht, dass sie sich hin und wieder in ihre eigene Gedankenwelt zurückzog. Die Freundinnen wunderten sich, berichteten von ihren Partnerschaften, von Überschwang und körperlicher Nähe. Aber noch keine ihrer Freundinnen hatte das fünfte Ehejahr hinter sich gebracht … Außerdem gab es dieses gegenseitige Einverständnis, die ausgedehnten, mit Plaudereien und Kaffee erfüllten Morgen, die sie für alles entschädigten. Am Ende siegte, wie durch ein Wunder, immer die fröhliche Stimmung.
Nach dem Frühstück verschwand Filippo mit dem Wagen. Anna fing erst später an, deshalb duschte sie in aller Ruhe und fuhr mit dem Rad zur Arbeit. An diesem Vormittag fiel eine Kollegin aus, und sie musste an die Rezeption. Im Grunde hatte sie nichts dagegen: Man verlor zwar viel Zeit, lernte aber auch interessante Leute kennen.
Wie diesen Herrn um die fünfzig, ein wenig krumm, mit seinen langsamen und bedächtigen Gesten. Anna stellte sich vor, dass er vielleicht Kellner oder Steward war, auch wegen des ehrerbietigen Schimmers in seinen Augen. Sie taufte ihn Butler. Ein Spiel, das sie immer mit ihren Kolleginnen spielte, bestand darin, den Bibliotheksnutzern Spitznamen zu geben. In einem zweiten Schritt musste man erraten, nach welchen Büchern sie suchten.
Der Butler wirkte wie einer, der gern reist. Reisebildbände. Vielleicht auch Kochbücher. Hundert Pasta-Rezepte. Süßspeisen für alle Gelegenheiten. Die Geheimnisse des Tiramisù.
Aber der Butler fragte sie nicht um Rat. Er strich nur durch die Regale, stöberte hier und dort. Es gab Leute, die kamen und fragten nach einem Buch, nach irgendeinem. Viele taten das vor einem Krankenhausaufenthalt oder vor einer Reise im Flugzeug. Der Butler schien dagegen zur Kategorie der Unzufriedenen zu gehören. Er sah sich um, blätterte und ging wieder. Bevor er hinausging, warf er ihr einen bedauernden Blick zu, wie um sich zu entschuldigen, dass er nichts auslieh. Anna lächelte ihm zu. Es sei dir verziehen, Butler.
Später, in der Mittagspause, sah sie ihn wieder. Sie hatte sich auf ihre gewohnte Bank am Fluss gesetzt. Sie sah eine Gruppe Jugendlicher hinter einer Sportlehrerin hereilen. Dann einen Mann, der seinen Hund verfolgte. Schließlich den Butler, der sich neben sie setzte und sagte:
»Signora Corti?«
Anna war verwundert.
»Kennen wir uns?«
»Nein.« Der Butler schob sich die Brille zurecht und deutete ein beflissenes Lächeln an. »Aber ich bin hier, um Ihnen behilflich zu sein.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich bin auf Ihrer Seite.« Der Butler schien ihr beinahe zuzuzwinkern. »Seien Sie unbesorgt.«
Anna presste die Brotzeitdose zwischen ihren Händen.
»Ich weiß alles über den Überfall auf die Junker-Bank in Bellinzona.«
»Was?«
»Ich bin ebenfalls ein Freund von Jean Salviati. Und vor allem bin ich mit anderen Ihrer Freunde befreundet.«
Anna spürte, wie ihr schwindlig wurde.
»Sie … ein Freund von … aber, was reden Sie da?«
»Seien Sie unbesorgt«, wiederholte der Butler. »Ich will ihnen lediglich einen Vorschlag machen. Niemand wird davon erfahren.«
Anna sah ihn nur an und drückte die Dose mit dem am Vorabend übrig gebliebenen Reissalat immer fester zwischen den Händen.
»Ich verspreche Ihnen eine angemessene Entschädigung, außerdem fügen Sie damit niemandem etwas Böses zu. Ich brauche nur Informationen.«
»Informationen? Von mir? Aber ich …«
»Sie wissen, wie Salviati ist, er will alles für sich behalten.« Der Butler warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. »Aber mein Chef will auch irgendwelche Sicherheiten.«
»Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht …«
Anna wäre gerne aufgestanden und zur Arbeit zurückgekehrt, aber das Schwindelgefühl hielt sie hier, auf der Bank am Flussufer fest. Das war kein Kinderspiel. Eine Bank auszurauben ist kein Kinderspiel.
»O doch, Sie verstehen schon!« Der Butler lächelte. »Ich möchte bloß, dass Sie mir das Datum und die genauen Zeiten des Überfalls mitteilen.«
Anna schluckte. Dieser Mann wollte irgendetwas von ihr.
»Um es kurz zu machen, verraten Sie mir Ihre Planung. Nur zur Sicherheit, verstehen Sie?«
10
Contini und Salviati
Es gab keine weitere Generalversammlung. Sie hielten vor allem übers Telefon Kontakt. Hin und wieder kam es zu einer kurzen Verabredung in einer Bar in Bellinzona, in Continis Büro oder bei Salviati
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