Die letzte Nacht
Handwerks genötigt, innerhalb von zwei Minuten die Flucht zu ergreifen. Wenn man vom Diebstahl lebt, muss man eisern sein. Es genügt eine kleine Unachtsamkeit, und du bist am Ende.
Das hat Jean mir später erzählt. Um mir sein Zögern in den ersten Sekunden zu erklären. Ich erinnere mich, dass er zuerst mich angesehen und dann den Blick zum Fenster gehoben hat, durch das er hereingekommen war. Ich habe nichts gesagt. Ich konnte nicht mehr denken, hatte keine Hoffnung mehr.
Jean hat sich neben mich auf den Kellerboden gesetzt. Erzähl mir alles, sagte er. Ich habe ihm alles erzählt, was ich wusste. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Minuten bereits um. Er musste in aller Eile nachdenken, und wie Sie sich vorstellen können, musste er für uns beide denken. Da ich ihm alles erzählt hatte, wusste er, dass sie Beweise gegen mich finden würden. Er wusste, dass sie mich in die Zange nehmen konnten. Vielleicht war es ihm auch nicht gleich klar, jedenfalls hat er zu mir gesagt: Ich bring dich hier raus.
An diesem Punkt hatte ich offenbar an Klarheit zurückgewonnen. Vielleicht hat mich die Tatsache, einen Ausweg zu sehen, wachgerüttelt.
Ich sag zu ihm: nein.
Er begreift nicht. Ich sag also: Tut mir leid, wenn ich ohne diese Fotos gehe, ist es aus mit mir. Er sieht mich an, mindestens ein paar Sekunden. In diesem Augenblick kam es mir vor wie Minuten, ach, was sag ich, jede Sekunde wog wie eine Stunde. Ich bleib stumm. Er späht noch immer zum Fenster. Dann wirft er einen Blick auf die Kellertür.
Am Ende steht er auf und sagt: Warum nicht?
12
An den Anfang zurückgekehrt
An einem Tag gegen Ende November verlor Matteo Marelli die Hoffnung. Die Wochen vergingen wie nach einer langen, schweren Krankheit. Nichts, wodurch sich ein Augenblick vom nächsten unterschieden hätte, außer das Verstreichen der Jahreszeiten. Der Sommer im Bavonatal schien tausend Jahre zurückzuliegen.
»Es ist Winter«, sagte er an jenem Tag, ohne sich an jemand bestimmtes zu wenden.
»Ich hab’s gesehen«, antwortete Lina.
Sie wandten sich nie an jemand bestimmtes. Sie waren in einer Art Freizone gelandet, weit weg von den Ereignissen und Vorstellungen der Welt dort draußen. Der Ausdruck »draußen« tauchte immer öfter in ihren Gesprächen auf. Sie lasen Bücher und Zeitschriften, sahen fern, aber sie waren allein damit beschäftigt, die Tage ihrer Gefangenschaft zu zählen.
Anfangs hatte Matteo Lina nichts erzählt. Sie wartete weiterhin auf den Überfall. Als er beschloss ihr zu gestehen, dass vor Dezember nichts geschehen würde, sprach sie drei Tage lang kein Wort mit ihm. Das heißt, sie sprach überhaupt nicht. Dann schien sie sich ohne weiteren Kommentar damit abgefunden zu haben. Er dagegen hoffte noch immer. Der Hinweis für Contini stützte sich auf eine ungewisse Annahme. Aber im Grunde war es nur gerecht, wenn auch sie einmal ein wenig Glück hatten.
Doch an diesem Tag sah er nach dem Frühstück aus dem Fenster, sah die dürren Zweige der Bäume und den Regen auf dem grauen Gehweg.
Er sagte nur:
»Es ist Winter.«
Aber Lina begriff. Auch er hatte die Hoffnung aufgegeben.
Matteo ging sofort in sein Zimmer und ließ sich bis zum Mittag nicht blicken. Sie bat darum, einen kleinen Spaziergang durchs Viertel machen zu dürfen. Elton willigte ein: Der letzte Spaziergang lag drei Tage zurück. Lina gewöhnte sich allmählich an diesen Gefängnisrhythmus. Sie trugen Winterkleidung, die Elton gekauft hatte, sie aßen, was er brachte, gingen nur in seiner Begleitung hinaus.
Elton und Lina liefen unter dem Schirm einmal um den Block. Sie sprach kein Wort. Elton hatte sich an ihr Schweigen gewöhnt. Für ihn waren diese Spaziergänge ein unvermeidliches Risiko. Es war schon schwierig genug, die Situation im Griff zu behalten, ohne dass den beiden Geiseln die Nerven durchgingen. Allerdings konnte er sich einigermaßen sicher fühlen. Er hatte den Nachbarn im Haus ein paar Geschichten aufgetischt, von nervöser Erschöpfung und Rehabilitation gesprochen. Er wusste, dass es, um die Leute fernzuhalten, nichts besseres gab als eine Krankheit.
Lina lief und sah sich um.
Sie hatte das Gefühl, die Dinge zum ersten Mal zu sehen.
Ein Mann, der sich beim Laufen die Regenjacke überzog. Ein Junge, der rannte, ein anderer auf dem Fahrrad, in einen orangefarbenen Mantel gehüllt. In den Häusern brannte Licht, wie um die Ankunft des Winters zu feiern.
Und das Ende der Hoffnung.
Besser gesagt: Noch bestand die Möglichkeit,
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