Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
sich inmitten von Steinen und Mörtel leise wogend auf mich zu.
In diesem Moment erlosch meine Kerze, als wäre sie ausgeblasen worden.
Ich rannte so schnell wie nie zuvor in meinem Leben. In blinder Panik um mich schlagend, bog ich um die Ecke und prallte in vollem Lauf gegen ein Hindernis, das sich wie ein Mensch anfühlte.
Ich schrie, aber nur Sekunden lang. Eine große, kräftige Hand drückte sich fest auf meinen Mund und brachte mich zum Schweigen.
Kapitel 31
Erst nachdem Bruder Edmund mich in Decken gehüllt und mir Bier zu trinken gegeben hatte, gelang es mir, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen.
Er hatte mich festgehalten, als ich schreiend und schlagend mitihm zusammengestoßen war, und mich ins Hospital getragen. Ich hatte gewartet, während er, mit einem langen Stock bewaffnet, den finsteren Gang absuchte.
»Ich habe nichts gefunden, Schwester Joanna«, sagte er. »Jetzt erzählt mir genau, was Ihr gesehen habt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Niemanden. Aber ich habe etwas gehört – es hörte sich an, als atmete jemand.«
»Woher kam es?«
Ich konnte nicht antworten. Jetzt, sicher und geborgen im Hospital, fürchtete ich nichts so sehr wie von Bruder Edmund für verrückt gehalten zu werden.
»Schwester Joanna?«
Ich konnte ihn nicht ansehen. »Es war, als würden die Mauern atmen. Als wäre das Kloster – lebendig geworden.«
Er lachte nicht und zeigte keine Beunruhigung. »Wann habt Ihr das letzte Mal geschlafen?«
»Gottes Diener brauchen keinen Schlaf«, murmelte ich.
»Um Gott mit ganzer Kraft zu dienen, müssen wir schlafen, essen und trinken«, entgegnete er bestimmt. »Ich habe erlebt, dass starke Männer sich beängstigende Dinge einbildeten, wenn sie ernsthaft geschwächt waren. Ihr legt Euch jetzt auf dem Lager neben Schwester Winifred nieder.«
»Nicht hier«, sagte ich erschrocken.
»Doch. Da ich die Dormitorien nicht betreten darf, kann ich Euch nicht begleiten, ich möchte aber nicht, dass Ihr wieder allein durchs Kloster geht.« Er führte mich zu einem Strohlager. »Mehr als eine Stunde Schlaf werdet Ihr ohnehin nicht bekommen, aber die braucht Ihr. Ich wecke Euch zu den Laudes.«
Bruder Edmund hatte recht. Ich war erschöpft. Das Letzte, was mir durch den Kopf ging, bevor ich einschlief, war eine Frage:
Warum hatte Bruder Edmund nicht wissen wollen, weshalb ich das Hospital überhaupt verlassen hatte?
Dann zog der Schlaf mich in seine Tiefen.
Wie versprochen, weckte mich der Bruder zu den Laudes. Ich hatte die Glocken gar nicht gehört. Matt und immer noch verwirrt ging ich wie ein Automat meinen morgendlichen Aufgaben nach.Als ich gegen Mitte des Vormittags zum Fenster hinausblickte, sah ich erstaunt, dass Geoffrey Scovill bei der Scheune umherging, gefolgt von Richter Campion, der mit seinem Stock auf irgendwelche Dinge hinwies.
»Sie sind schon seit Stunden dort«, flüsterte Schwester Agatha, die unversehens neben mir stand. »Der Coroner hat mit Lady Chester gesprochen. Jetzt befragt er von Neuem die Priorin. Es heißt, dass sie alle Dienstboten vernehmen wollen, die im Kloster tätig sind.«
So zuwider mir die Vorstellung war, dass einer unserer Dienstboten ein Mörder sein könnte, war ich doch froh, dass der Verdacht sich offenbar nicht mehr gegen Bruder Edmund und Bruder Richard richtete. Ende des morgigen Tages würde die gerichtliche Untersuchung abgehalten werden.
»Sieht das Mädchen auf der Tapisserie wirklich wie Schwester Beatrice aus?«, fragte ich.
Schwester Agatha nickte. »O ja.«
»Warum hat sie das Kloster verlassen?«
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass kein Lauscher in der Nähe war, erzählte sie mir die Geschichte. Die ehemalige Novizin war das jüngste Kind einer großen Familie gewesen, ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann. Einige Monate nach dem Tod des Vaters hatte ihre Mutter sie nach Dartford gebracht. »Sie hat kein gutes Haar an ihrer Mutter gelassen«, berichtete Schwester Agatha. »Sie haben immer nur gestritten. Zu mir sagte sie, ihre Mutter sei eine hartherzige Frau. Die Priorin Elizabeth bemühte sich, geduldig mit ihr zu sein; sie sagte, Schwester Beatrice habe Temperament, und es solle nicht gebrochen, sondern geformt werden. Sie war ein schönes Mädchen. Am meisten liebte sie die Musik.«
Ich lächelte. »Das hört sich an, als wäre sie jemand, dem ich gern begegnet wäre.«
»Aber als die Kommissare des Königs kamen und sie erklärte, dass sie uns verlassen wolle, war das für uns sehr
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