Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
umgab den festungsähnlichen Bau. Um das Tor zu erreichen, würden wir eine Zugbrücke überqueren müssen, die zum Glück an diesem Tag heruntergelassen war. Aber das Fallgatter mit den schweren Eisenbeschlägen war heruntergelassen.
Im Torhaus entdeckten wir einen schlafenden Mann, und Bruder Edmund weckte ihn.
»Ich bin Joanna Stafford, eine Verwandte der Herzoginwitwe, und werde heute von ihr empfangen werden«, teilte ich ihm mit.
Der Mann musterte mich mit dem gleichen mürrischen Blick, den ich unterwegs in den Gesichtern vieler Menschen beobachtet hatte, ob Bauern oder Gastwirte. Ich wartete darauf, dass er mir sagen würde, die Herzoginwitwe sei nicht zu Hause. Wenn es so war, würde ich dennoch darauf bestehen, der Schlossherrin ein Schreiben zu hinterlassen. Die Regeln der Gastfreundschaft schrieben vor, dass man auf jeden Fall von einem Bewohner des Hauses – einem Verwalter oder einer Dienstmagd – empfangen und bewirtet wurde. Das wäre unsere Chance, die Haupträume zu besichtigen und nach der Tapisserie zu suchen.
Ohne ein Wort führte uns der Mann zur Zugbrücke. Ein flachsköpfiger Junge kam herbei, um sich der Pferde anzunehmen. John blieb bei ihnen.
Die Zugbrücke war alt, das Holz unter meinen Füßen schien ein wenig morsch. Bruder Edmund machte erschrocken einen kleinen Sprung, als auch er auf eine morsche Planke trat. Im harten Sonnenlicht sah er unbestreitbar krank aus: fiebrig brennende Augen in einem ausgezehrten Gesicht.
Drinnen musste jemand unsere Ankunft beobachtet haben, denn das Fallgatter wurde hochgezogen. Die rostigen alten Ketten klirrten. Dann wurde das Tor geöffnet, und eine Frau mit scharfen Gesichtszügen kam uns entgegen.
»Sie ist eine Verwandte der Herzoginwitwe«, knurrte der verschlafene Mann und zog sich zurück.
Die Frau musterte uns argwöhnisch; wir sahen ja nicht gerade hochherrschaftlich aus. Sie war vornehmer gekleidet als ich.
Ich nannte ihr meinen Namen, während ich mich schon in die Halle drängte. Keinesfalls durfte man um Erlaubnis fragen. Bruder Edmund folgte mir, und das Misstrauen der Frau, die ihn jetzt genauer sah, verwandelte sich in Furcht. Gleich würde sie ein paar Diener herbeirufen.
»Ich bin erstaunt, dass meine Cousine eine so unhöfliche Kammerfrau in ihrem Haus duldet«, fuhr ich sie an.
Widerwillig knickste sie und ging uns dann ins Innere des Schlosses voraus. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie uns führte, aber ich versuchte, sicher zu wirken.
Wir durchquerten eine Galerie und einen großen Innenhof und gingen dann eine Steintreppe hinauf. Oben öffnete sich uns ein riesiger Festsaal, an dessen anderem Ende in einem mannshohen offenen Kamin ein Feuer prasselte. Vor dem Feuer standen Sessel und ein Tisch. Eine einsame Gestalt, eine Frau in Schwarz, saß in einem der Sessel. Die Kammerfrau eilte zu ihr, sprach mit ihr und zog sich dann in eine Ecke zurück.
Der Raum war so groß, dass wir einige Zeit brauchten, um ihn zu durchmessen. Als wir uns dem Kamin näherten, begann mein Herz schmerzlich zu pochen. Die Frau am Feuer sah sehr vertraut aus.
Sie sah aus wie meine Cousine Margaret. Das glänzende rotblonde Haar, das unter der französischen Haube hervorquoll, das schmale ovale Gesicht, die schlanke Gestalt – in allem ähnelte sie Margaret.
Einen Becher in der Hand drehend, blickte sie uns entgegen. Sie war zu jung, um Margaret sein zu können, erkannte ich, als wir näher kamen. Es war Mary Howard Fitzroy, zum lebenden Abbild ihrer schönen Tante herangewachsen.
Ich zog die Kapuze meines Umhangs herunter und versank in einem Knicks, wie er einer Herzoginwitwe gebührte. »Durchlaucht«, sagte ich.
»Cousine Joanna?«, fragte sie erstaunt. »Was tut Ihr hier?«
»Wir sind auf der Reise durch Wiltshire, und ich wollte Euch auf dem Weg besuchen«, antwortete ich, wie wir es vorher eingeübt hatten. »Das ist Edmund Sommerville, er begleitet mich auf dieser Reise.«
Edmund verbeugte sich.
Sie war immer noch verwirrt. »Aber seid Ihr nicht Nonne, Joanna? Was ist passiert? Wurde Euer Kloster aufgelöst?«
»Nein, Dartford gibt es noch. Wir sind auf der Reise zu einem anderen Kloster, in einer Angelegenheit unseres Ordens.«
»Ach ja? Mir erscheint das sehr merkwürdig.« Ihr Blick flog zwischen uns hin und her und verweilte schließlich bei mir. »Seltsam, ich habe erst vor Kurzem von Euch gehört. Meine Mutter schrieb mir, Ihr wärt in irgendwelchen Schwierigkeiten.«
Ich versuchte abzuwiegeln. »Nicht der
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