Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
der spitz dreinblickenden Kammerfrau vorbei in das Schlafgemach des toten Herzogs von Richmond. Es war groß und reich ausgestattet. Ich hatte nie ein so kunstvoll geschnitztes Bett gesehen. Ausgelassen warf Mary sich darauf nieder. »Endlich!«, rief sie lachend. Die französische Haube flog ihr vom Kopf, und das lange rotblonde Haar fiel ihr den Rücken herab.
Bruder Edmund ging zu der langen Wand gegenüber, an der dreiTapisserien hingen, in der Mitte die aus Dartford. Sie besaß all die besonderen Merkmale unserer Arbeit: die reiche Vielfalt an Farben, die fein gearbeiteten Details und das mythologische Motiv.
Die Tapisserie zeigte zwei Frauen und einen Mann. Die beiden Frauen standen inmitten einer Pracht von Kornfeldern und Früchten. Sie hielten einander an der Hand, und die Jüngere von beiden, strahlend schön, wies abwärts zum unteren Bildrand, wo ein stattlicher bärtiger Mann einer dunklen Höhle entstieg. Keine der drei Figuren hatte die geringste Ähnlichkeit mit irgendjemandem, den ich aus Dartford kannte.
»Kennt Ihr diese Geschichte?«, fragte ich.
Bruder Edmund nickte. »Es ist die Geschichte von Persephone.«
»Ja, sie war die Hadesbraut«, sagte von hinten meine Cousine Mary. »Eine passende Gefährtin für mich, findet Ihr nicht auch?« Sie lachte, während sie sich aufrichtete. »Mein Bruder Surrey hat diese Tapisserie immer geliebt, genau wie mein Gemahl. Sie wurden zusammen erzogen, wisst Ihr. Mein Bruder liebt diese Tapisserie hier mehr als die andere aus Dartford, die in Norfolk House hängt.«
»Die Howards besitzen noch eine andere Tapisserie aus Dartford?«, fragte ich.
»Ja, aber die in Lambeth ist älter als diese hier und auch größer.« Mary rutschte vom Bett.
Bruder Edmund fragte gespannt: »Erinnert Ihr Euch, welche Geschichte sie erzählt?«
Sie sah blinzelnd zur Decke hinauf, als versuchte sie, das Bild der Tapisserie heraufzubeschwören. »Ich weiß, dass sie eine Gruppe Schwestern zeigt, tanzende Schwestern.«
»Nonnen?« Ich hatte Mühe, ruhig zu sprechen.
»Nein, das sind sie ganz sicher nicht.« Sie trat ein paar Schritte vor und ließ ihre Finger den Rand der Tapisserie entlanggleiten. »Ich selbst ziehe diese hier vor. Eines Tages, als Persephone« – sie deutete auf das schöne Mädchen in der Mitte des Bildes – »beim Blumenpflücken war, sah Hades sie, der Gott der Unterwelt, und war bezaubert. Er öffnete eine Schlucht in der Erde und holte Persephone zu sich. Wir wollen nicht dabei verweilen, was dann geschah, denn ich bin ja noch Jungfrau.« Mary kicherte. »Ihre Mutter Demeter, dieGöttin der Fruchtbarkeit, suchte überall nach ihr und ging schließlich zu Zeus, dem Göttervater, um nach ihr zu fragen.«
Bruder Edmund nahm den Faden auf. »Zeus kannte natürlich die Wahrheit. Aber Hades war sein jüngerer Bruder, deshalb konnte er ihm Persephone nicht ganz wegnehmen. Er bestimmte, dass Persephone hinfort sechs Monate des Jahres mit ihrer Mutter auf der Erde leben sollte und die anderen sechs Monate mit Hades, ihrem Mann, in der Unterwelt. Immer wenn Mutter und Tochter wieder vereint waren, wurde es warm auf der Erde, und die Pflanzen gediehen. Wenn Persephone wieder in die Unterwelt hinabsteigen musste, starben die Pflanzen, und Kälte überzog die Erde, denn dann trauerte Demeter um ihre Tochter. So erklärten die alten Griechen den Lauf der Jahreszeiten.«
Meine Cousine Mary klatschte in die Hände, entzückt wie ein Kind. »Ihr erzählt die Geschichte beinahe so gut wie mein Bruder Surrey, und er ist ein Dichter. Ihr seid höchst gelehrt. Bitte bleibt doch ein paar Tage – Eure Gesellschaft würde mich so sehr erfreuen.«
Bruder Edmund wurde rot. Vielleicht war er nie zuvor von einer schönen jungen Frau bewundert worden. Es gab mir einen merkwürdigen kleinen Stich.
Marys Blick ruhte auf mir, sie lächelte verschmitzt. »Was wird aus Euch werden, Joanna, wenn die Klöster alle aufgelöst sind?«, fragte sie. »Werdet Ihr das Nonnendasein dann aufgeben?«
»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, antwortete ich.
»Ich sollte Euch wohl sagen«, bemerkte sie, »dass mein Bruder und ich den Lehren der religiösen Reform folgen. Der König wünscht es.«
Tief enttäuscht erwiderte ich: »Ihr wisst, warum ich im Tower festgesetzt wurde, nicht wahr, Cousine? Ich war im Mai in Smithfield.«
Sie senkte den Kopf. »Die arme Tante Margaret. Ja, Ihr wart die Einzige, die den Mut besaß – Ihr und Euer Vater.« Sie hob den Kopf und
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