Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
keine Entschuldigung dafür,anderen das Leben zu nehmen. Ihr müsst das Messer jetzt weglegen und mit mir kommen.«
Mit funkelnden Augen richtete sie sich auf und war mit einem Sprung wieder bei der Priorin. »Nein«, versetzte sie mit einem schrecklichen Lächeln. »Wenn Ihr mir zu nahe kommt, schneide ich ihr die Kehle durch.«
Der Priorin sprangen in ihrer Todesangst fast die Augen aus den Höhlen.
Ich näherte mich Schwester Christina. »Bitte«, sagte ich flehend. »Bitte. Tut, was Geoffrey sagt.«
»Schwester Joanna, verlasst mich nicht«, bat sie. »Ihr müsst mir helfen zu fliehen.«
»Ihr wisst, dass ich das nicht tun kann«, sagte ich.
»Aber Ihr seid die Einzige, die weiß, wie es ist. Die Einzige. Was mir angetan wurde, wurde auch Euch angetan, das weiß ich. Ich habe es Euch angemerkt, wir waren ja lange genug zusammen. Auch Euch wurde von Eurem Vater Gewalt angetan.«
Ich schauderte voller Abscheu.
»Nein«, sagte ich.
»Belügt mich jetzt nicht«, kreischte sie.
»Ich lüge nicht. Ich liebe meinen Vater. Er ist ein guter und liebevoller Vater. Niemals würde er mir so etwas antun.«
Ihr Gesicht verzerrte sich in der rasenden Wut, die schon zwei Menschen das Leben gekostet hatte. Sie schleuderte das Messer weg und stürzte sich auf mich, die Hände zu Klauen gekrümmt.
Ich wich bis zur Mauer zurück. Aber sie war schon über mir, packte mich am Hals und schlug meinen Kopf mit ganzer Kraft gegen die Backsteine. Ein grauenvoller heißer Schmerz hüllte mich ein.
Der unterirdische Klostergang versank in Schwarz.
Kapitel 46
Greenwich Palace, Juni 1527
Das Erste, was George Boleyn zu mir sagte, war: »Miss Stafford, ich bin sicher, die französische Mode würde Euch besser kleiden.«
Er war mit dem König in die Gemächer der Königin gekommen. Ich war erst kürzlich Königin Katharina in aller Form als ihre neue Hofdame vorgestellt worden. Ich war sechzehn Jahre alt. Es war einer der stolzesten Augenblicke im Leben meiner Mutter. Mein Aufstieg sollte sie für all ihre enttäuschten Hoffnungen entschädigen und ihre Rückkehr in den Kreis um die Königin herbeiführen.
Katharina von Aragón war freundlich, würdevoll und warmherzig. Ich fühlte mich bereits wohl in den Räumen dieser Frau, die das Alter meiner Mutter hatte und mit dem gleichen spanischen Akzent sprach. Auch ihre strenge Kleidung und die geschmackvolle Ausstattung der Räume erinnerten mich an meine Mutter. Die anderen Damen hießen mich willkommen; ein Mädchen, nicht viel älter als ich, erbot sich, mich in meine Pflichten einzuführen.
»Wir werden gut auf Eure Tochter achten; ich weiß, dass sie Euer größter Schatz ist«, sagte die Königin zu meiner Mutter.
»Nein, nein, Hoheit«, entgegnete meine Mutter schnell. »Es ist jetzt ihre Aufgabe, auf
Euch
zu achten.«
Sie lächelten einander an. Die vergangenen sechs Jahre der Verbannung hatten die feste Freundschaft, am spanischen Hof besiegelt, nicht erschüttern können. Alles verstand sich von selbst.
Zu mir sagte Königin Katharina: »Ich weiß, dass Ihr in der Nadelarbeit sehr geschickt seid. Wir werden gemeinsam nähen – bei mir liegt ein Stapel Hemden Seiner Majestät, die letzter Feinheiten bedürfen.«
Ich knickste. »Es wäre mir eine Ehre, Ma’am.«
Die Königin lächelte mir noch einmal zu und winkte dann ihrem Beichtvater. Während ihres ganzen Lebens in England – während ihrer Ehen mit zwei königlichen Brüdern, der Geburt ihrer Tochter Maria, während der traurigen Aufeinanderfolge von Totgeburten und Fehlgeburten – hatte sie stets an einem spanischen Beichtvaterfestgehalten. Klein und untersetzt schritt sie jetzt, von ihrem Beichtvater gefolgt, hinaus, um ihre Privatkapelle aufzusuchen.
Meine Mutter war eine feinfühlige Frau und wollte mich nicht mit übertriebener Fürsorge einengen. Sie wollte alte Freunde besuchen. »Ich bin in einer Stunde wieder zurück, um dir und der Königin Lebewohl zu sagen«, versprach sie. »Mach dich mit den anderen Damen bekannt, solange Ihre Majestät in der Kapelle ist.«
Sie war kaum zehn Minuten weg, als der König erschien. Im Gang herrschte plötzlich Betriebsamkeit, ein Page eilte ins Gemach, dann trat der König selbst ein, mit mehreren Männern im Gefolge. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war ich noch ein Kind gewesen.
Wir versanken in tiefen Hofknicksen. Ich hielt den Blick zu Boden gerichtet, als ich mich langsam wieder erhob.
»Wo ist die Königin?« Seine Stimme war
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