Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Zelle nicht erschüttern konnten. Die Mauern des Tower sind die dicksten im Land, und nichts kann sie erschüttern.
Kapitel 9
In dieser Nacht im Beauchamp Tower konnte ich nicht ahnen, dass sie nur die erste von vielen sein würde. Ich lag starr vor Angst, ohne ein Auge zu schließen, bis endlich die Finsternis der Morgendämmerung wich. Den folgenden Tag trieb ich zwischen Wachen und Schlafen dahin und stand kaum einmal von meinem Lager auf. Ich nahm keine Notiz von den regelmäßigen Besuchen des Wärters, der mir das Essen in die Zelle schob und es später unberührt wieder abholte. Ich musste ständig an die Kartäusermönche denken, die in Newgate um ihrer Überzeugung willen einem langsamen Hungertod entgegendämmerten. Wie konnte ich essen, während sie litten? Und wozu sollte ich überhaupt zu leben wünschen? Der Herzog von Norfolk und seine Handlanger würden mich so lange verhören, mit Hohn überschütten und der Unwahrheit bezichtigen, bis sie meinten, genug Belastendes beisammen zu haben, um mich, meinen Vater und sämtliche Angehörige der Familie Stafford zu vernichten.
Aber als am zweiten Morgen die Tür geöffnet wurde und eine Frau ein Holzbrett mit Essen abstellte, trieb mich der Hunger zu ihm hin. Die Frau war nicht Bess. Sie war älter und größer, mit einem länglichen Gesicht und schwarzem Haar, das fast ganz von einer weißen Haube bedeckt war. Wie ein Tier fiel ich über das harte Stück Käse her, das man mir gebracht hatte. Ich schämte mich meiner Schwäche, aber ich konnte diesem Verlangen zu leben nicht widerstehen, selbst wenn mir nur ein elendes – und kurzes – Leben bleiben sollte. Nachdem ich das karge Mahl verschlungen hatte, legte ich mich wieder hin und schlief viele Stunden, ohne von Träumen geplagt zu werden.
Gekräftigt, aber von Angst gepeinigt, erwachte ich später. Würde dieser Tag neue Verhöre bringen? Würde es der Tag sein, an dem sie versuchen würden, mich ›kleinzukriegen‹? Ich betete und wartete, lauschte auf Schritte im Korridor. Aber außer den Wachen und den Bediensteten erschien niemand.
So ging es weiter, einen Tag nach dem anderen. Morgens kam die Frau mit der weißen Haube, die, wie ich später erfuhr, Susanna hieß. Am späten Nachmittag kam einer der zwei Wachsoldaten, Henryoder Ambrose, mit dem Abendessen. Die Speisen waren kaum noch genießbar, das Bier schmeckte sauer. Ich aß und trank sehr wenig.
Nach einer Woche erklärte mir Ambrose die Situation. »Wenn Ihr anständiges Essen wünscht, zusätzliche Möbelstücke, Holz für den Kamin oder sonst etwas, müsst Ihr dafür bezahlen«, sagte er. »So ist das hier geregelt.«
Ich konnte nur noch lachen. »Seht Ihr hier irgendwo Münzen oder Schmuckstücke, Sir?«, fragte ich.
»Ihr habt doch Familie«, sagte er geduldig. »Ich helfe Euch bei der Beförderung von Nachrichten und den nötigen Vorkehrungen. Die Bezahlung übernehmen immer die Familien.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Ich will mit niemandem Verbindung aufnehmen. Das wäre nicht angebracht.«
Er war erstaunt. »Ich dachte, Ihr wärt aus vornehmem Haus.«
»Das war einmal«, sagte ich und wandte mich ab. Ich hörte ihn hinausgehen und einen Moment später draußen jemandem von meiner Ablehnung seines Vorschlags berichten. Ich konnte immer etwas aufschnappen, wenn vor meiner Zelle geredet wurde, aber nach diesem Tag bezogen sich die Gespräche nie wieder auf mich oder meinen Vater.
Eines Morgens wurde der Gefangene, dessen Schluchzen ich immer wieder vernommen hatte, fortgebracht. Sein Weinen anhören zu müssen, war schrecklich genug gewesen, aber ich entdeckte, dass es noch viel schlimmer war, es nicht mehr zu hören. Wohin, außer zu seiner Hinrichtung, konnten sie ihn gebracht haben?
Einmal, als ich am frühen Nachmittag matt vor mich hin dämmernd auf meinem Strohsack lag, wurde unversehens die Zellentür geöffnet, und Lady Kingston trat ein, diesmal in einer mit winzigen Edelsteinen geschmückten Giebelhaube.
»Befindet Ihr Euch wohl, Miss Stafford?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. Die Frage erschien mir mehr als absurd.
»Ihr seht krank aus.« Sie machte ein besorgtes Gesicht, und ich fragte mich, ob dies eine der Masken war, die sie anlegte, um ihrem Gegenüber Geheimnisse zu entlocken. Ich hielt es für besser zu schweigen.
Sie drückte mir etwas in die Hand. Zu meiner Überraschung waren es mehrere schwere Bücher. Auf jedem der Einbände stand in geprägten Lettern
Summa Theologica
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