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Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne

Titel: Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Bilyeau
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Tages, bei einem Nachmittagsausflug mit dem Hauptmann, sah ich die ersten gelben Blätter unter den Maulbeerbäumen liegen. Es machte mich unglaublich traurig, dieses Zeugnis der verrinnenden Zeit zu sehen. Was war mit meinem Vater? Was ging im Kloster in Dartford vor? Ich musste plötzlich weinen. Der Hauptmann tat, als bemerkte er es nicht.
    An diesem Tag begann meine schlimmste Zeit im Tower. Eine dumpfe Trauer legte sich über meinen Körper und meine Seele. Ich konnte mich nicht mehr auf Thomas von Aquin konzentrieren. Manchmal stand ich den ganzen Tag nicht von meinem Lager auf. Nachts, wenn meine Ängste am größten waren, weinte ich. Ich dachte viel an meine Mutter. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie krank gewesen, aber nicht nur die Kraft ihres Körpers war gebrochen, auch ihr Gemüt hatte sich verdüstert. Sie schlief in verdunkelten Räumen. Ich fühlte noch jetzt das Grauen in meinem Herzen, das mich stets begleitete, wenn ich auf Stafford Castle mit dem Servierbrett zu ihr ging und wusste, dass ich sie teilnahmslos und verzweifelt im Bett vorfinden würde. Jetzt fühlte ich mich ihr auf schreckliche Art verwandt.
    Alles änderte sich, als ich eines kühlen Abends nach der Essenszeit an meiner Tür Schlüssel klirren hörte und gleich darauf Bess in heller Aufregung in meine Zelle stürzte.
    »Euer Vater ist im Tower«, sagte sie außer Atem.
    »Was?« Mit einem Sprung war ich bei ihr.
    »Ich habe gehört, dass Sir Richard Stafford im White Tower imunteren Geschoss festgehalten wird. Sie haben ihn vor zwei Tagen hergebracht. Morgen passiert etwas in Eurer Angelegenheit.«
    Ich ergriff Bess’ Hände. »Bess, berichte mir genau, was du gehört hast. Du darfst nichts auslassen.«
    »Als ich reinging, um den Tisch abzuräumen, sagte Lady Kingston: ›Ist es wahr, dass er morgen kommt, um Joanna Stafford zu prüfen?‹ Und Sir William sagte: ›Ja, deshalb hat man vor zwei Tagen ihren Vater hergebracht. Norfolk hat ihn holen lassen, damit er sich die Staffords vornimmt. Er ist, abgesehen vom König, der Einzige, auf den Norfolk hört.«
    »Das ist alles?«
    »Ja. Aber ich habe vorher eine der Wachen sagen hören, dass ein neuer Mann hier ist, ein Edelmann, im unteren Geschoss des White Tower. Das muss Euer Vater sein.«
    Alle Mattigkeit, Verzweiflung und Angst lösten sich in Nichts auf, verdrängt von wilder Entschlossenheit.
Mein Vater lebt. Mein Vater ist hier, ich muss ihn sehen.
    Bess sagte in bedeutungsschwerem Ton: »Miss Stafford, ich könnte dafür ausgepeitscht und gebrandmarkt werden, aber ich habe Euch Papier und Feder mitgebracht. Wenn Ihr ihm eine Nachricht schreibt, bringe ich sie ihm und bitte um Antwort.«
    Ich starrte sie an, und mein Plan war schon fertig.
    »Nein, Bess«, sagte ich. »Du bringst mich heute Nacht zu meinem Vater. Und ich weiß auch schon, wie wir es anstellen.«

Kapitel 10
    »Bess, halt die Kerze still.« Das Licht sprang unstet zuckend über die dunklen Mauern.
    »Verzeiht, Miss Stafford, meine Hände wollen nicht aufhören zu zittern.« Bess’ laute Stimme schallte durch den langen unterirdischen Gang.
    »Nenne bitte niemals meinen wahren Namen.«
    Sie senkte den Kopf, und es tat mir leid, dass ich sie hatte schelten müssen. Aber Bess setzte ihr Leben für mich aufs Spiel, und ich musste alles mir Mögliche tun, um sie zu schützen.
    Hinter mir hörte ich ein Geräusch, das wie das Kratzen langer Fingernägel an einem Holzpfahl klang. Diesmal drehte ich mich nicht um. Bess hatte mich gewarnt, dass es in den Gängen von Ratten wimmelte. »Wir setzen immer wieder Katzen aus, aber immer verschwinden die Katzen und nicht die Ratten.«
    Von dem Moment an, als wir den finsteren Stollen betreten hatten, machten sie sich bemerkbar. Meistens hörte ich sie nur irgendwo hinter mir, doch hin und wieder sah ich am Rand des zitternden Lichtkreises, den die Kerze warf, flüchtig einen peitschendünnen schimmernden Schwanz quer über den schmalen Gang huschen.
    »Nichts als Ratten und Raben«, schimpfte Bess leise. »Meine Schwester und ihre Freunde glauben, ich will mich nur aufspielen. Ha! Nichts als Ratten und Raben überall, sag ich. So stellen die sich bestimmt keinen Palast vor.«
    Ich ließ sie vor sich hin brummeln. Vielleicht beruhigte das ihre Nerven.
    Noch keine Stunde war vergangen, seit es mir gelungen war, sie zu überreden, mir bei meinem gewagten Vorhaben zu helfen. Mit einer notdürftig angefertigten weißen Haube auf dem Kopf und einem Stapel frischer

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