Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
ging.
Ich schaute zum Fenster hinaus. Mein Blick fiel auf einen erhöht gelegenen Wehrgang auf der Burgmauer, der sich von diesem Turm zu einem anderen zog. Dahinter versperrte die massige Steinmauer die Sicht. Den Anger konnte ich von hier aus nicht sehen.
»Ich habe eine Bitte«, wandte ich mich an den Hauptmann, der ungeduldig wartend an der Tür stand.
»Ja?«
»Kann ich Papier und Feder bekommen, um meine Familie und die Priorin meines Klosters davon zu unterrichten, dass ich hier festgehalten werde?«
»Auf Anordnung Sir Williams ist Euch jegliche Verbindung nach außen untersagt. Er wird dafür Sorge tragen, dass alle unterrichtet werden.«
Damit wandte er sich zum Gehen.
»Wartet.« Meine Stimme klang brüchig. »Darf ich nicht wenigstens Bücher haben? Ich dachte, Bücher seien den Gefangenen erlaubt.«
Der Hauptmann zögerte.
»Die Schriften Thomas von Aquins«, fügte ich schnell hinzu, bevor er mir eine abschlägige Antwort erteilen konnte. »Daran kann doch nichts Unrechtes sein.«
»Ich kann nichts versprechen«, sagte er. »Ich werde Eure Bitte an Sir William weitergeben.« Dann ging er.
Wenig später kam Bess und brachte ein Servierbrett mit Brot und einem großen Stück Käse mit.
Da hörte ich den Gesang, nur schwach, aber wohltuend. Viele Stimmen, wenigstens hundert, zu gemeinsamem Gesang erhoben.
»Bess, ist das das Te Deum?«, fragte ich erstaunt.
»Ja. Das ist der ganze Hof, alle müssen singen. Auf Befehl des Königs. Auch Lady Kingston und Sir William sind auf dem Weg dorthin. Alle, die im Dienst des Königs stehen, sind in die St Paul’s Cathedral befohlen worden.«
»Warum?«
Sie sah mich einen Moment an. »Wegen Königin Jane«, antwortete sie dann. »Das Kind in ihrem Leib hat die ersten Lebenszeichen gegeben, und alle müssen feiern. Der König ist gewiss, dass er dieses Mal seinen Sohn und Erben bekommen wird. Diese Ehefrau wird schaffen …« Sie ließ den Satz unvollendet.
… woran die anderen gescheitert sind.
Das, glaubte ich, würde alle Welt denken. Seine erste Ehefrau, Katharina von Aragón, verstoßen, nachdem sie nur eine Tochter zustande gebracht hatte. Seine zweite, die Hexe Boleyn, enthauptet, als sie es nicht besser machte.
Doch ich sagte nur: »Ein kleiner Prinz wäre ein Quell großer Freude für unser Königreich.«
Bess nickte, aber ihr Blick war besorgt und ihre Haltung gedrückt. Von der nervösen Mitteilsamkeit des Morgens war nichts übrig. »Bist du dafür gestraft worden, dass du mich ans Fenster gelassen hast?«, fragte ich.
»O nein. Lady Kingston hatte nur die königliche Ladung zum Gottesdienst in der Kathedrale im Kopf. Sie hatte Angst, Sir William würde hier zu lange festgehalten werden und die Feier versäumen.«
»Warum bist du dann so bedrückt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich Euch nicht sagen.«
»Bitte, Bess.«
Sie warf einen Blick über die Schulter zur Tür, ehe sie dicht an mich herantrat und mir zuflüsterte: »Ich habe gehört, was Sir William zu meiner Herrin sagte, bevor sie sich zur Kathedrale begaben. Der Herzog von Norfolk hat ihm erklärt, es wäre von großem Gewinn für den König, wenn Ihr und Euer Vater des Verrats überführt würdet. Weil dann die Staffords endgültig vernichtet werden könnten und die Krone so vor Angriffen sicherer sei. Wenn sie es schafften, Euch kleinzukriegen –«, Bess brach ab.
»Sprich weiter.«
»– wäre dem Herzog und Sir William eine Belohnung sicher. Der König würde es zweifellos zu schätzen wissen und sie mit Land bedenken.«
Die Stimmen aus der Kathedrale schwollen zum Schlusschor des Te Deum an, dann verklang die Musik langsam.
»Danke, Bess«, flüsterte ich. »Ich werde nichts sagen. Bitte bring das Essen weg.«
In ihren Augen waren Tränen, als sie das Servierbrett nahm.
Ich ließ mich auf das schmale Strohlager sinken und drehte mich zur Wand. Lange blieb ich so liegen, mit offenen Augen und ohne mich zu rühren. Ich starrte die Steinmauer an und sah zu, wie das Licht auf ihr sich allmählich verdunkelte. Die Nacht brach herein. Die Tower-Wachen draußen im Korridor und auf dem Wehrgang riefen sich mit lauten Stimmen Befehle zu. Ich hörte das Wort
Freudenfeuer
.
Irgendwann vernahm ich Salutschüsse zu Ehren des Königs in dieser Zeit der Freude: einen, zwei, drei und mehr. Sie waren sehr laut. Schwacher Schwefelgeruch wehte durch das Fenster herein, vielleicht von den Freudenfeuern, vielleicht von den Kanonenschüssen, die die Mauern meiner
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