Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Stimme hatte einen schrillen Ton.
»Ja, gut, ich bring euch selbst zur Zelle«, erwiderte er und griff nach einem Schlüsselbund.
»Nein«, wehrte Bess hastig ab. »Gib mir einfach den Schlüssel.«
»Es ist stockfinster da unten«, sagte er. »Ich hab die Fackeln nicht angezündet. Warum soll ich euch nicht helfen?«
Mir fiel keine Erwiderung ein, und Bess offensichtlich genauso wenig. Resigniert folgten wir ihm durch mehrere Gänge. Seine rot-goldene Uniform war voller Flecken und kleiner Risse, wie ich bemerkte, als er anhielt, um die erste Fackel zu entzünden. Er sah ungepflegter aus als die anderen Wärter, mit denen ich zu tun gehabt hatte. Vielleicht, dachte ich, waren die Männer, die nachts im Tower Wache halten mussten, von geringerem Stand.
Tom summte ein Lied vor sich hin, während er vor uns her marschierte. Hin und wieder drehte er sich lächelnd nach mir um, als müsste ich das Liedchen erkennen. Jedes Mal nickte ich freundlich. Ich wartete nur darauf, dass er mich ein wenig genauer betrachten und erkennen würde, dass ich nicht die Frau war, für die er mich hielt. Aber dazu kam es nicht.
Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, hielt er wieder an und zündete mit der Fackel, die er trug, ein weiteres Wandlicht an. Mit der Faust schlug er an die Tür daneben. »Achtung da drinnen«, rief er mit Donnerstimme. »Es kommt jemand!«
Mit seinem Schlüssel sperrte er die Tür auf. Wir sahen in gähnende Finsternis. Bess drängte sich mit ihrem Kerzenstummel an mir vorbei. In einer Ecke war ein Strohsack zu erkennen, auf dem reglos ein langer, dünner Körper lag.
»Ihr habt recht, hier drinnen stinkt’s wirklich«, sagte Tom. »Braucht ihr Hilfe?«
»Das ist Frauenarbeit«, erklärte Bess mit Entschiedenheit. »Lass uns mit ihm allein. Das ist in zehn Minuten erledigt.«
»Na gut«, brummte Tom. »Ich sollte meinen Posten sowieso nicht so lange verlassen.« Er zog sich zurück und schloss die Tür. Ich hörte ihn den Schlüssel drehen.
Bess stellte die Kerze neben der Tür auf den Fußboden und nahm mir das Bettzeug ab. »Ich mach das Bett, dann könnt Ihr reden.«
Ich rannte durch die Zelle. »Vater, wach auf. Ich bin es, Joanna. Bitte, wach auf.«
Er lag mit dem Gesicht nach unten unter einer Decke. Ich schüttelteihn an der Schulter, die spitz und knochig war. Er hatte stark an Gewicht verloren.
Aber er wachte nicht auf. Ich bekam Angst. War mein Vater in dieser Zelle gestorben? Ich suchte mit der Hand nach seinem vollen Haar; im trüben Kerzenschein konnte ich ihn kaum erkennen. Endlich bewegte er den Kopf; er drehte sich herum und öffnete die Augen.
Der Mann war nicht mein Vater.
»Nein!«, schrie ich. »Das kann nicht sein.«
Bess kam zu mir gelaufen. »Was ist los?«
»Das ist nicht mein Vater.«
»Aber er muss es sein«, beharrte sie. »Es sei denn –«
»Was?«
»Wir haben nicht ausdrücklich ›Stafford‹ gesagt. Es muss auf diesem Gang noch einen Adeligen geben, und er dachte, dies wäre der Mann, den wir meinten. Oh, nein!«
Ich schlug mit der Faust an die Wand. »Wir müssen Tom holen. Er soll uns zu meinem Vater bringen.«
»Nein, nein, Miss.« Bess schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das würde er verdächtig finden. Ich fürchte, er hegt ohnehin schon den Verdacht, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.«
Der Mann auf dem Strohlager stieß einen Laut aus, der wie ein Krächzen klang. Erschrocken sahen wir zu ihm hinunter, er hatte uns wohl zugehört.
»Ich kenn Euch«, stieß er heiser hervor. »Joanna. Stafford. Was tut Ihr hier?«
Das eingefallene Gesicht mit den übergroßen dunklen Augen war mir unbekannt. Spitz stachen die Wangenknochen unter der Haut hervor, die aufgesprungenen Lippen waren ohne Farbe. »Charles«, sagte er keuchend. »Charles Howard.«
Bess stieß einen unterdrückten Schrei aus. »Der Mann, der Lady Margaret Douglas heiraten wollte.«
Ich konnte es nicht glauben. Der ausgezehrte Mensch auf dem Bett hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem frechen jungen Aufschneider Charles Howard, der sich vor Jahren auf Stafford Castle über mich lustig gemacht hatte.
»Charles, wart das wirklich Ihr? Habt Ihr der Nichte des Königs den Hof gemacht?«, fragte ich.
Er schloss die Augen und nickte.
»Weiß Euer Bruder, dass Ihr so krank seid? Ist der Herzog von Norfolk davon unterrichtet worden?«
Er schauderte, sein Körper begann zu zucken, und ich glaubte, er würde einen Krampfanfall bekommen. Aber er lachte. Und an dem spöttisch
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