Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen.
»… vom König verbannt, seiner Macht entkleidet und wegen Verrats festgesetzt worden war?«, meinte Bischof Gardiner gelassen.
»Ja, ja, nachdem der Kardinal – abgesetzt worden war, habt Ihr große Bedeutung für den König gewonnen.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich konnte mich der Einzelheiten nicht erinnern, und es war mir ungeheuer peinlich, mich so unwissend zu zeigen. »Der Könighat Euch zum Bischof von Winchester und Mitglied des Kronrats ernannt. Und jetzt seid Ihr sein wichtigster Gesandter in Frankreich.«
Das Lächeln des Bischofs war bemüht. »Das ist alles, was Ihr über mich wisst? Ich muss gestehen, das überrascht mich.«
»Ich war politisch nie sehr interessiert«, murmelte ich.
»Aber ich, Schwester Joanna. Ich habe in Cambridge studiert, sieben Jahre lang, bevor ich Wolseys Sekretär wurde. Ich erinnere mich noch heute an die Nacht vor seiner Ankunft. Ich habe kein Auge zugetan, so sehr fieberte ich dem Gespräch mit ihm entgegen. Ich wollte unbedingt derjenige sein, den er unter den versammelten Kandidaten auswählen würde. Und so geschah es tatsächlich. Kardinal Wolsey erkannte sogleich meine Möglichkeiten. Er wusste, dass ich es weit bringen würde.«
Seine Stimme verriet plötzliche Gemütsbewegung. Stolz schwang in seinem Ton, aber auch etwas anderes. Konnte es ein Anflug von Scham sein? Ich hatte das Gefühl, ihm heimlich bei der Beichte zu lauschen.
»Im Dienst des Kardinals stieg ich schnell auf«, fuhr er fort. »Es war vor allem meiner Kenntnis der Jurisprudenz zu danken. Ich war ja Jurist und Lehrer, ein geachteter Rechtsgelehrter. In dieser Eigenschaft reiste ich nach Paris und Rom. Ich war seither fünfmal in Rom und habe viele Stunden in den päpstlichen Archiven zugebracht.«
Er hielt inne, als wollte er die Bedeutung dieser Tatsache wirken lassen. Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. Ich konnte mir nicht vorstellen, was seine vergangenen Reisen – oder sonst etwas aus seiner Vergangenheit – mit meiner Vernehmung zu tun haben sollten.
»Niemand in England kennt sich im Zivilrecht und im kanonischen Recht besser aus als ich. Deswegen war ich so nützlich. Der König wünschte die Scheidung von Katharina von Aragón, und der Papst verweigerte sie. Darauf griff Seine Majestät auf das geltende englische Recht zurück. Und ich konnte ihm die rechtlichen – Lösungen liefern. Ich trug Papst Clemens persönlich die Sache des Königs vor.«
Mir wurde kalt. Die Scheidung des Königs von Katharina von Aragón war der erste Schritt auf dem Weg gewesen, der unser Landins Chaos gestürzt hatte, und hier, vor mir, stand einer der Männer, der entscheidend an ihr mitgewirkt hatte.
»Wie leicht in Euren Zügen zu lesen ist, Schwester Joanna. Ich seht mich an, als wäre ich Luzifer persönlich.«
Verlegen blickte ich zu Boden.
»Ich weiß, dass Ihr Katharina von Aragón während der letzten Monate ihres Lebens gedient habt.« Er seufzte. »Nein, Ihr könntet mein Handeln niemals verstehen. Es wäre ungerecht von mir, das Gegenteil zu erwarten. Lassen wir es also dabei bewenden: Ich diene dem Haus Tudor.« Er legte eine grimmige Betonung auf das Wort
Tudor
.
Wieder tippte er die unglaublich langen Finger gegeneinander, dreimal in schneller Folge.
»Ihr seid über die Tagesereignisse nicht gerade glänzend unterrichtet, sprechen wir also von der Vergangenheit, wenn es Euch recht ist. Kennt Ihr Euch in der Geschichte aus? In der englischen?«
Ich nickte.
»Eduard III. ist Euch bekannt? Auch sein Sohn, der Schwarze Prinz? Wie steht es mit Richard Löwenherz? Oder dem toten Bruder unseres Königs, Prinz Arthur?«
Als ich diese Aufzählung hörte, kamen mir zum ersten Mal Zweifel am Geisteszustand des Bischofs.
»Sind diese Männer Euch bekannt, Schwester Joanna?«, wiederholte er so langsam und deutlich, als hielte er mich für schwachsinnig. »Bitte antwortet mir.«
»Ja. Aber ich verstehe den Zusammenhang nicht.«
»Eduard III. gründete vor beinahe zweihundert Jahren Euer Kloster – ich nehme doch an, dass Ihr das wisst?«
»Ja, Exzellenz«, antwortete ich.
»Die Gründung eines Nonnenklosters in der Nähe von London war für ihn von außerordentlicher Bedeutung. Und es durfte nur ein Kloster der Dominikanerinnen sein. Warum aber wollte er so dringend das erste dominikanische Nonnenkloster in England gründen?«
Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich in Dartford gelernt hatte. »Weil
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