Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
wenig später ein großes schwarzes Gebäude, das Lowfield Armenhaus, das unsere Priorin betreute und mindestens einmal in der Woche besuchte. Wir hatten die Außenbezirke des Städtchens Dartford erreicht.
Obwohl es mit dem Abend abgekühlt hatte, waren meine Hände heiß und feucht vor Nervosität. Es ging alles so schnell. In wenigen Minuten würde ich der Priorin Elizabeth und den Schwestern gegenüberstehen. Was sollte ich ihnen sagen? Was hatte Bischof Gardiner ihnen in dem Schreiben mitgeteilt, das mir vorausgeeilt war?
Wenn die Priorin ärgerlich oder bestürzt war, wandte sie stets den Blick von der Urheberin ihrer Enttäuschung ab, als wäre der Anblick zu quälend. Aber sie verharrte nie in ihrer Verärgerung. Wie lange würde es dauern, bis sie ihren klugen, gütigen Blick wieder auf mich richtete? Ich verlangte nach ihrer Vergebung, wenngleich ich kein Recht hatte, sie zu erwarten.
Auch an die Schwestern dachte ich – die klatschfreudige Novizinnenmeisterin, Schwester Agatha, und die schweigsame Tapisseriemeisterin, Schwester Helen. Am nächsten standen mir natürlich die anderen Novizinnen. Schwester Winifred, deren Bruder jetzt neben mir saß, war einer der freundlichsten Menschen, die ich kannte, so uneigennützig wie meine Cousine Margaret. Schwester Christina, die Älteste von uns dreien, neigte zu stürmischen Ausbrüchen, aber gerade deshalb fühlte ich mich ihr umso näher; zwischen uns gab es so etwas wie ein schweigendes Einverständnis. Auch sie stammte aus einer angesehenen Familie. Ihr Vater, Lord Chester, war ein reicher Großgrundbesitzer in Kent, seit Jahren ein bevorzugter Jagdgefährte des Königs. Ihre Mutter war eine geborene Neville, Angehörige einer Familie, die ebenso angesehen war wie die Familie Stafford.
Bruder Richard drehte sich lächelnd auf seinem Pferd um. »Pilger voraus!«, rief er uns zu.
Am Straßenrand marschierten drei Gestalten hintereinander her, alle in lange, grobe Gewänder gekleidet. Als wir näher kamen, konnte ich erkennen, dass sie barfüßig waren.
Bruder Edmund sah mich fragend an.
»Viele Pilger machen auf dem Weg zu den heiligen Stätten in Rochester und Canterbury in Dartford Station«, sagte ich und wies zu den fernen Bäumen, hinter denen eine Reihe großer, weißer Gebäude zu erkennen war. »Das sind die Gasthäuser, wo sie übernachten.«
Bruder Richard rief dem Pilger, der als Letzter ging, einen Gruß zu. Der Mann antwortete nicht. Sein vor ihm gehender Gefährtedrehte sich um. »Ihr müsst verzeihen, ehrwürdiger Bruder, aber mein Vater spricht nicht«, erklärte er höflich mit heller Knabenstimme. »Wir sind auf dem Weg zum Schrein des heiligen Wilhelm von Rochester. Erst dort wird er sprechen und um Vergebung für seine Sünden bitten.«
Bruder Richard neigte fragend den Kopf. »Was für Sünden?«
»Wir haben dieses Jahr unsere Mutter durch die Pest verloren, und die Ernte war so schlecht, dass wir vielleicht unseren Hof aufgeben müssen. Mein Vater meint, er müsse schwer gesündigt haben, wenn Gott ihn so grausam straft.«
»Ich bete für Euch, dass Ihr die erhoffte Gnade findet«, sagte Bruder Richard. Er kam auf seinem Pferd zum Wagen zurück und fragte Bruder Edmund aufgeregt: »Habt Ihr das gehört? Sie glauben an die heiligen Stätten. Jesus Christus wandelt noch unter den Menschen.«
Bruder Edmund nickte, die ruhigen braunen Augen so undurchdringlich wie Edelsteine.
Wunderliche Gesellen, diese beiden Ordensbrüder, fand ich und fragte mich, warum Bischof Gardiner gerade sie auserwählt hatte, aus Cambridge gerettet zu werden. Konnte es Zufall sein, dass er sie nach Dartford schickte? Nun ja, unser Haus war das einzige Dominikanerinnen-Kloster in England, und die Männerklöster waren vermutlich alle schon überfüllt. Dominikaner durften nur Seite an Seite mit Angehörigen ihres eigenen Ordens dienen. Der Bischof hatte mir geboten, mit keinem der beiden über die Athelstan-Krone zu sprechen, und ich hatte nicht die Absicht diesem Gebot zuwiderzuhandeln. Aber wie konnte ich sicher sein, dass sie nicht von meinem Auftrag wussten – oder zumindest etwas ahnten?
Mein Auftrag. Unmöglich, ihn zu erfüllen. Der Bischof hatte mich angewiesen, mit »List« zu Werke zu gehen. Aber alle List war mir fremd. Meine Gefühle standen mir stets ins Gesicht geschrieben, und schon als Kind hatte ich nicht lügen können. Ich hatte einmal eine Geschichte über eine römische Spionin zur Zeit der Borgias gelesen. Als es ihr nicht
Weitere Kostenlose Bücher