Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
gefreut. Bei der Messe in der Familienkapelle gruselte es meine Cousine Margaret und mich immer ein wenig, wenn wir dem Priester zuhörten, aber die grausigen Details über den Tod der Märtyrer faszinierten uns auch. Unsere Lieblingslegende war die von der heiligen Agnes, die im Alter von zwölf Jahren unter dem Johlen der Menge im gewaltigen Kolosseum in Rom von Löwen zerrissen worden war. Für uns waren diese Geschichten nur schaurig-schöne Märchen.
Nun, bei der Allerheiligenmesse im Kloster Dartford, gedachte ich all der Frauen und Männer, die für unseren Glauben Schmerz, Folter und vorzeitigen Tod ertragen hatten. Es war mir unverständlich, wie Cromwell und seine ketzerischen Anhänger unsere Heiligen so tief verachten konnten.
»Am heutigen Tag feiern wir die Märtyrer«, sprach Bruder Philip feierlich in der Apsis der Kirche, »und gedenken in Ehrfurcht ihrer heiligen Gebeine, die in Klöstern und Kirchen der ganzen Christenheitals Reliquien verehrt werden. Wie können wir kleinen niedrigen Geschöpfe die Opfer jener begreifen, die ihr Blut für Gott und die Jungfrau Maria vergossen haben? Ich rufe den heiligen Hieronymus an, uns Licht in diese Tage zu bringen. Denn er war es, der sagte: ›Wir verehren die sterblichen Überreste der Märtyrer, um Ihn besser verehren zu können, für den sie zu Märtyrern wurden.‹«
Ich dachte daran, wie ich am Tag zuvor auf dem Hügel jene alten Steine, die Grundsteine des Klosters der heiligen Juliana, berührt hatte, und betete für die Frauen, die da draußen ihr Leben hingegeben hatten. Schwester Christina, die neben mir saß, wiegte sich leise stöhnend.
Nach der Sext zerstreuten sich alle in unterschiedliche Richtungen, um mit den Vorbereitungen für das Festmahl des kommenden Tages fortzufahren. Ich traf mich mit Bruder Edmund und Schwester Winifred zu einer letzten Musikprobe im Kapitelhaus. Aber meine Finger waren fahrig auf der Vihuela, und ich griff beim Spiel immer wieder daneben. Ich war froh, als Gregory und seine Helfer hereinkamen, um hinter dem Haupttisch eine Tapisserie aufzuhängen. Wir unterbrachen unser Spiel, um ihnen zuzusehen.
Es war die zuletzt von uns fertiggestellte Tapisserie, die wir von ihrem jetzigen Eigentümer, einem ortsansässigen Schiffsbauer, ausgeliehen hatten. Er war mit Freuden bereit gewesen, uns das Bildwerk für diesen besonderen Anlass zur Verfügung zu stellen. Jeder hier wollte Lord Chester zu Diensten sein, er war der bedeutendste Mann in dieser Gegend.
»Ein wahres Wunder«, sagte Bruder Edmund, als die Männer die fünf Fuß lange Tapisserie ausrollten. Schwester Winifred und ich sahen einander stolz an. Wir hatten beide an
Daphnes Verwandlung
mitgewirkt. Das Werk war kurz vor Beginn der Fastenzeit fertig geworden.
Die Geschichte, die das Bild erzählte, gründete auf einer alten griechischen Sage: Ein Flussgott verwandelt seine schöne Tochter Daphne, eine Nymphe, in einen Lorbeerbaum. Schwester Helen stellte die menschlichen Figuren immer selbst fertig, und in diesem Fall hatte sie sich selbst übertroffen. Einem fliehenden hellhaarigen Mädchen von großer Schönheit wachsen Zweige und Blätter aus denweißen Gliedmaßen, während im Hintergrund eine Gruppe Männer zusieht. Schwester Helen hatte allein für den Wald mehr als zwanzig verschiedene Grüntöne verwendet. Ich wusste, dass sie nicht nur aus Brüssel importierte Seidenfäden benutzte, sondern einen Teil des Garns selbst eingefärbt hatte. Blumen leuchteten am Flussufer: Narzissen, Rosen und Veilchen. In der unteren rechten Ecke, hinter einem Busch Lilien, die über das Flussufer hingen, war das graue Haupt von Daphnes Vater zu erkennen.
»Vorsicht, ihr Tölpel!«, schrie Gregory die Männer an, die Mühe hatten, die Tapisserie hinter dem Podium gerade zu hängen.
»Schluss mit der Musik, meinst du nicht, Bruder?«, fragte Schwester Winifred. Ich hatte meine Vihuela schon weggelegt.
Bruder Edmund antwortete nicht. Er konnte den Blick nicht von der Tapisserie wenden.
»Wunderschön, nicht?«, fragte ich.
»Ja, zweifellos«, sagte er langsam. »Aber dass ein Kloster ausgerechnet die Geschichte der Daphne zum Gegenstand eines Kunstwerks wählt, finde ich merkwürdig. Nicht nur wenn man bedenkt, dass Ihr es erschaffen habt, sondern auch im Hinblick darauf, dass es morgen bei einem Festmahl zum Gedenken der Toten gezeigt werden soll.«
Ich nickte. »Ja, so ist es mir mit solchen Geschichten auch ergangen. Aber die Priorin Elizabeth versicherte uns,
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