Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Schultern und schrie: »
Sie haben sich selbst verbrannt!
Als das Feuer heruntergebrannt war, wurde das Tor eingeschlagen, aber alles, was man fand, war verbranntes Fleisch. Die Nordmänner waren so wütend, dass sie das Kloster dem Erdboden gleichmachten und die Steine auf den Feldern verstreuten.«
Der stürmische graue Himmel drehte sich über mir, und meine Beine versagten den Dienst. Von heftigem Brechreiz gepeinigt, fiel ich auf die Knie.
In völlig verändertem Ton rief Schwester Christina: »Oh, Schwester Joanna, das wollte ich nicht! Bitte verzeiht mir.«
Sie hockte neben mir nieder und streichelte meinen zuckenden Rücken. »Ich wusste nicht, dass Euch das so nahegehen würde. Ihr wart im Gefängnis, im Tower. Ihr seid
verhört
worden. Ich glaubte, Euch könnte ich das erzählen, Ihr könntet es ertragen. Die Leute in Dartford kennen die Geschichte; sie wird seit Jahrhunderten weitergegeben. Ich hatte sie schon gehört, bevor ich ins Kloster eintrat.«
Sie half mir auf. Ich holte ein paarmal tief Atem. »Ich kann solche Geschichten einfach nicht hören, aber das konntet Ihr natürlich nicht wissen, Schwester.«
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich sehe, dass Ihr den Tod dieser Nonnen nicht auf dieselbe Weise begreifen könnt wie ich.«
»Ich empfinde Trauer. Wie sonst sollte man ihren Tod begreifen?«
»Im Tod haben sie das Leiden Christi auf eine ganz besondere, hochheilige Weise geteilt«, erklärte Schwester Christina. »Die Flammen waren läuternd; sie waren eine Form« – sie suchte nachden richtigen Worten – »eine Form göttlicher Feuertaufe. Versteht Ihr?«
»Nicht ganz«, bekannte ich.
Unser Gespräch brach jäh ab, als wir unten die Priorin, Schwester Eleanor und Schwester Rachel in den kalten, regennassen Innenhof treten sahen, ohne ihre schwarzen Mäntel, mit Körben am Arm.
»Schaut.« Schwester Christina wies zum Klosterweg, der aus dem Wald herüberführte. Eine Menschenschlange näherte sich. Ich kannte den Mann, der sie führte. Die ärmsten Leute von Dartford kamen, wie sie das zweimal im Monat taten, um vom Kloster Almosen zu empfangen. Das war seit Generationen Tradition. Die jeweilige Klostervorsteherin verteilte Nahrungsmittel und Münzen an die Bittsteller.
Unbemerkt kehrten Schwester Christina und ich zum Kloster zurück. Es war ein Trost, nach der Begegnung mit den zerfallenen Mauern des Leprahospitals und den traurigen Überresten des alten Nonnenklosters vor dem majestätischen Tor von Dartford zu stehen.
Unzählige Male war ich achtlos an ihnen vorbeigeeilt, jetzt aber hielt ich inne, um mir die steinernen Königsstandbilder rechts und links des Tors genauer anzusehen. Als ich nach Dartford gekommen war, hatte jemand mir erzählt, es handle sich um zwei verschiedene Abbilder desselben Mannes, Königs Eduard III., das eine zeige ihn im Alter, das andere in der Jugend. Die Statue auf der Linken war bärtig und trug lange Gewänder. Die Figur zur Rechten hatte ein bartloses Gesicht, war mit einem Kettenpanzer bekleidet und trug ein Schwert.
Ich musterte die Figur auf der Rechten. »Wartet«, sagte ich. »Ehe wir hineingehen – kennt Ihr die Geschichte dieser Figuren?«
»Der alte Mann ist König Eduard III.; der jüngere ist sein Sohn, der Schwarze Prinz. Der Prinz starb, noch bevor das Kloster seine Pforten öffnete.«
Ich war verblüfft. »Ihr kennt Euch gut aus.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin in Dartford aufgewachsen. Ich wurde als Kind im Kloster unterrichtet. Ich weiß praktisch alles über das Kloster.«
Sie wies auf die in Stein gemeißelte Szene über dem Eingang. »Mir ist die Geschichte der Heiligen Jungfrau lieber als die der Könige.«
Ich betrachtete die vor Jesus und Maria knienden Figuren. Christus hielt seine Hände über dem demütig geneigten Haupt seiner Mutter ausgebreitet. Über ihrem Kopf, tief in die Mauer eingehauen und beinahe überdeckt von Lilien, konnte ich den Umriss einer Krone erkennen. Sie war mir vorher nie aufgefallen. Sie schwebte genau über der Mitte des spitz zulaufenden Torgewölbes, durch das jeder das Kloster Dartford betrat.
Schwester Christina bemerkte meinen überraschten Blick und lachte. »Schwester Joanna, liebt Ihr die Krönung der Heiligen Jungfrau auch so sehr? Ist es nicht wunderbar? Ihr Sohn krönt sie zur Himmelskönigin.«
Kapitel 24
Zwischen das heidnische Totenfest Halloween und das christliche Allerseelenfest fällt der Allerheiligentag. Ich hatte mich als Kind immer darauf
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