Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
LEPRAHOSPITAL DER HEILIGEN MARIA MAGDALENA UND DES HEILIGEN LAUDUS. Darunter hieß es in kleinerenLettern: ORDEN DES HEILIGEN LAZARUS VON JERUSALEM. Ich wusste ein wenig über diesen Orden: ein hospitalischer Orden, zur Versorgung der Aussätzigen gegründet, von den Templern unterstützt. Die Kreuzzüge. Meine Cousins auf Thornbury Castle hatten mit Vorliebe Kreuzritter gespielt. Ihre Holzschwerter schwenkend, stürmten sie durch die breiten Korridore und schrien: »Gott hat’s befohlen!«
Das Fenster, das Bischof Gardiner mir beschrieben hatte, war schnell gefunden, ebenso die breite Öffnung daneben. Ich holte den Brief heraus, den ich erst am Morgen mit Wachs versiegelt hatte, entfernte den losen Stein, schob meinen Brief in die kleine Höhle und setzte den Stein wieder davor. Dieses Versteck war gut ausgekundschaftet und vorbereitet worden. Zum ersten Mal fragte ich mich, wer meinen Brief abholen und ihn über das Meer zu Bischof Gardiner befördern würde. Irgendein Einheimischer, dem für seine Mühe gute Bezahlung winkte?
Es verlangte mich nicht, länger an diesem gottverlassenen Ort zu verweilen, und so begab ich mich auf den Rückweg zum Kloster. Als ich den Hügel fast erklommen hatte, drehte ich mich noch einmal um und las die Worte über dem Torbogen: Der Orden des heiligen Lazarus von Jerusalem. Die Kreuzzüge. Und da fiel es mir ein.
Richard Löwenherz, englischer König und Führer des Dritten Kreuzzugs. Einer der Männer, die Bischof Gardiner im Tower erwähnt hatte.
Wisst Ihr von Eduards Sohn, dem Schwarzen Prinzen? Wie steht es mit Richard Löwenherz? Oder dem toten Bruder des Königs, Prinz Arthur?
Obwohl er zwei Jahrhunderte früher gelebt hatte, wusste ich über Richards Leben mehr als über das des Schwarzen Prinzen. Die Kreuzzüge hatten mich immer interessiert. Richard Löwenherz, der mit ungeheurem Mut gegen die Ungläubigen gekämpft hatte. Auf dem Heimweg von Jerusalem wurde er von einem anderen König gefangen gesetzt und befreite sich, um seinen Anspruch auf den Thron geltend zu machen, den sein treuloser Bruder Johann ihm streitig machen wollte. Wenn ich mich recht erinnerte, war er verheiratet gewesen, hatte aber keine Kinder gehabt und war in mittlerem Alter im Süden Frankreichs gestorben.
Im Süden Frankreichs.
Wie merkwürdig. König Richard war in jenem Teil der Welt gestorben, in dem der Schwarze Prinz an dem Leiden erkrankt war, das zu seinem Tod geführt hatte.
Meine Gedanken schweiften in alle Richtungen, als ich wieder oben unter den Bäumen stand. Es ging mir ähnlich wie bei der Arbeit an einer von Schwester Helens Tapisserien. Anfangs kannte allein sie das Muster; wir wirkten, was der Karton uns gebot, ohne zu wissen, was für eine Welt wir erschufen, bis endlich gewisse Einzelheiten Gestalt annahmen: Männer und Frauen, Gottheiten und Tiere, Wälder und Meere.
Ich konnte erste Umrisse des verwirrenden Musters erkennen, das Bischof Gardiner vorgegeben hatte. Wenn ich beharrlich blieb, würde ich das Geheimnis der Krone vielleicht doch noch aufdecken.
Ich trat ein paar Schritte aus dem Schutz der Bäume, um ins Kloster zurückzukehren, als in der Ferne zu meiner Rechten etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich durch den Regen.
Der mit Bäumen und Büschen bewachsene Hügelkamm, auf dem ich stand, setzte sich ein Stück fort und erweiterte sich dann zu einem abgeflachten, baumlosen Kegel. Über diese kahle Höhe schritt, sich von mir entfernend, eine Frau im einfachen Habit der Novizin, die Kapuze um die Schultern drapiert. Es war Schwester Christina.
Ich lief ihr nach. Wo immer möglich, hielt ich mich an Ästen und Zweigen fest, um auf dem schlammigen Hang nicht abzurutschen.
»Schwester Christina«, rief ich, sobald ich die Bäume hinter mir gelassen hatte. Sie war stehen geblieben, aber sie drehte sich nicht nach mir um. Wahrscheinlich blies der Wind meine Stimme fort, er wehte jetzt heftiger und kälter, der Regen hingegen hatte nachgelassen.
Als ich sie beinahe eingeholt hatte, rief ich wieder. Diesmal fuhr sie erschrocken zusammen und drehte sich um. Ihre Augen waren rot und geschwollen vom Weinen.
»Was ist Euch?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf, und ich drang nicht weiter in sie. Ich teilte ihre Betrübnis über die unsichere Zukunft unseres Klosters. Ihrebreite Stirn war von Falten durchzogen wie die einer alten Frau. Ihre Nase war rot von der Kälte – oder vom Weinen, wie ihre müde
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