Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
Ihr Gesicht war verquollen vom Weinen.
»Bruder Edmund ist Apothecarius und so kundig wie ein Arzt«, sagte die Priorin, während der Bruder mit ausdrucksloser Miene den Puls des Lords fühlte und seine Augenlider hochzog.
»Lord Chester lebt«, sagte er dann sachlich. »Es ist nur der Wein. Er wird sich erholen.«
»Ja, so etwas ist schon früher vorgekommen«, bestätigte Lady Chester. »Er schläft dann stets sehr lange, so tief, dass niemand ihn wecken kann, und erwacht mit Kopfschmerzen.«
Die Priorin winkte Gregory herbei. »Ihr müsst ihn hinaustragen und in einem Wagen auf seinen Landsitz bringen. Holt Euch zusätzliche Männer, wenn nötig.«
»Ja«, sagte Bruder Richard. »Bringt ihn so schnell wie möglich von hier weg.«
»Nein, bitte nicht.« Lady Chester umklammerte die Schulter der Priorin. »Lasst ihn nicht fortschaffen wie einen gemeinen Verbrecher. Das wird nur noch größeres Aufsehen erregen. Habt Ihr nicht Gästequartiere hier? Lasst ihn dort über Nacht bleiben; lasst uns beide bleiben. Wir werden gehen, sobald er wach wird. Gleich morgen in aller Frühe. Ich verspreche es.«
Die Priorin schüttelte den Kopf.
»Er ist sehr aufgewühlt«, erklärte Lady Chester. »Wegen unseres Sohnes.« Ihre Stimme brach einen Moment. »Er trauert immer noch um ihn. Was mein Gemahl heute Abend hier gesagt und getan hat – er war nicht er selbst. Der Wein hat aus ihm gesprochen.«
Unter den Nonnen regte sich zornige Bewegung. Schwester Rachel stürmte vorwärts wie ein rächender Engel.
»Ehrwürdige Priorin, er darf nicht hierbleiben«, rief sie laut. »DieEntweihung unseres Klosters durch diesen Mann muss ein Ende haben. Er ist böse in Worten und in Taten. Wir haben es hier in unserem Kapitelsaal erlebt.« Sie wies auf Schwester Winifred, die keuchend um Atem ringend in Schwester Agathas Armen lag.
Die anderen murmelten Zustimmung. Schwester Eleanor schien tief gepeinigt, hin- und hergerissen zwischen ihrem Abscheu vor Lord Chester und ihrer Loyalität zur Priorin.
Weinend rief Lady Chester: »Christina, wo bist du? Hilf uns. Ich bitte dich.«
Schwester Christina eilte mit gequältem Gesicht auf ihre Mutter zu und blieb dann mitten im Saal stehen. Ihre Hände zitterten.
Bruder Edmund half seiner Schwester zur Tür. »Ganz gleich, was über Lord Chester beschlossen wird,Schwester Winifred muss behandelt werden«, sagte er. »Mit Eurer Erlaubnis, Ehrwürdige Priorin?«
Sie nickte, und die Geschwister verließen den Saal.
Bruder Richard räusperte sich. »Ehrwürdige Priorin, hier ist Schlimmes geschehen, und wer weiß, was noch geschehen wird, wenn er bleibt, und sei es nur für eine Nacht.«
Lady Chester kauerte weinend neben ihrem Ehemann, während die Priorin stirnrunzelnd zu dem Besinnungslosen hinunterblickte. Wir warteten alle auf ihre Entscheidung.
»Gregory«, sprach sie den Pförtner an, »lass Lord Chester in unser Gästequartier im Vorderhaus tragen. Es ist nicht angemessen vorbereitet, aber er und Lady Chester werden sich damit begnügen müssen. Dann sperre die Türen zur Klausur ab, damit niemand hier eindringen kann.«
Hocherhobenen Hauptes wandte sie sich uns zu. »Das ist meine Entscheidung. Wir sind immer noch ein Haus Gottes, das der Gastfreundschaft verpflichtet ist. Wir werden unsere Heiligtümer – das Reliquiar, die Bücher und die übrigen Gegenstände – in die Kirche und die Bibliothek zurückbringen. Wir werden die Allerseelenmesse feiern. Wir werden als Bräute Christi der Verstorbenen gedenken, wie unsere Gelübde es uns gebieten.«
Bruder Richard machte ein finsteres Gesicht, aber er sagte nichts. Zweifel und Furcht spiegelten sich in den Mienen der Nonnen. Aber wir alle beugten uns dem Willen der Priorin.
Schwester Eleanor sagte laut: »Kommt, Ihr habt gehört, was zu tun ist.«
Schwester Rachel eilte zum Reliquiar. »Ich werde es selbst reinigen«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Den Schmutz tilgen.«
Eine Gruppe älterer Nonnen nahm sich der anderen Gegenstände auf dem Tisch an. Gregory und seine Männer näherten sich Lord Chester, um ihn wegzutragen.
Ich verließ den Kapitelsaal zusammen mit Schwester Christina. Ich hatte heute Abend genug gesehen, um zu verstehen, was sie nach Dartford getrieben hatte, warum sie geschworen hatte, es niemals zu verlassen.
Bei der Totenmesse am Abend sprach ein tiefernster Bruder Philip einige besondere Worte aus Anlass des Allerseelenfests, wenngleich ihnen die Inspiration fehlte, die Bruder Richards
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