Die letzte Praline
Weinsorten zugegeben. Diese besteht aus zweiundsechzig Prozent Pinot Noir, acht Prozent Portugieser, acht Prozent Riesling, sieben Prozent Frühburgunder, vier Prozent Regent, weiteren vier Prozent Dornfelder, drei Prozent Müller-Thurgau, zwei Prozent Domina sowie noch einmal zwei Prozent Weißburgunder. Vor dem Gebäude fließt die Ahr, ein kleiner Nebenfluss des Rheins, den ich mit Bezug auf die meisten Weine des Tals nicht blau, sondern mittels Fruchtpulver rot dargestellt habe.« Sie presste die Lippen zusammen, nickte kurz, trat zurück und blickte sich fragend um. Bietigheim nahm ihr geschwind das Mikrofon ab.
»Herzlichen Dank und Applaus für Vanessa Hohenhausen!« Das Heranzoomen von Kameralinsen war zu hören, Blitze erhellten den Saal, lautes Klatschen setzte ein.
Die Jury wanderte zu Jón Gnarr, vor dessen Küchenzeile eine Pyramide aus schokoladigen Sektkelchen stand. Bietigheim erkannte mit einem Blick, dass es sich dabei um eine Meisterleistung der Chocolatierskunst handelte.
»Meine Damen und Herren, ich präsentiere meine Skulptur: ›Ich esse Sterne!‹ Angelehnt an Dom Perignons berühmten Ausspruch ›Ich trinke Sterne‹. Die Gläserpyramide, welche Sie hier sehen, ist komplett aus weißen Schokoladenkelchen erbaut. Sie stehen auf einem Bistrotisch, der ebenfalls komplett aus Schokolade besteht, auch wenn es aus der Entfernung anders aussieht. Der Tisch wiederum steht auf einem Flokatiteppich, dessen Muster den römischen Weingott Dionysos bei einem Gelage zeigt – auch er wurde selbstverständlich aus Schokolade gefertigt. Nun entkorke ich eine Methusalem, also eine Sechs„literflasche, gefüllt mit nordschwedischem Birkensaftsekt.« Mit einem lauten Plopp schoss der Korken aus der Bouteille, und schäumend ergoss sich der sprudelnde Wein in das oberste Schokoladenglas. Als es überlief, füllte sich die Reihe darunter und so fort bis zur untersten Ebene der Pyramide.
Spontaner Applaus setzte ein.
»Sie fragen sich jetzt bestimmt, wo die Pralinen versteckt sind. Verrate ich Ihnen sofort: Es sind die kugelförmigen Verzierungen, seitlich an der runden Tischplatte. Bei ihrer Füllung habe ich das kulinarische Motiv des Weins – in meinem Falle des Schaumweins – aufgegriffen und es mithilfe der Technik, die auch bei der Herstellung von Luftschokolade benutzt wird, umgesetzt. Zudem enthalten meine Trüffelkugeln Brausepulver, das im Mund kleine Explosionen verursacht. Sie prickeln also auf der Zunge genau wie Schaumwein.«
Der glatzköpfige Isländer verbeugte sich und genoss das Blitzlichtgewitter, als wären es die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings nach einem viel zu langen Winter. Echte Begeisterung lag im Jubel der Anwesenden. Wer sollte das noch toppen?
Doch als Pierre Cloizel das Mikrofon erhielt, war er die Ruhe selbst. Von Anspannung in seinem gelassenen Gesicht keine Spur, kein Vibrieren in der Stimme. Cloizels Skulptur war kleiner als die von Gnarr und Hohenhausen und stand auf einem schlichten, hellen Eichenholztisch.
»Mesdames et messieurs, Sie sehen einen Rebstock. Denn schließlich ist er es, von dem alles ausgeht, was später in der Flasche zu finden ist. Boden, Kleinklima, Jahrgangsunterschiede, aber auch Fauna und Flora vor Ort, alles, auch die Hand des Menschen, fließt mit ein, die Kultur und Tradition des Weinmachens, all das ist Terroir. Deshalb nenne ich meine Skulptur auch so.« Cloizel legte eine kurze Redepause ein, in der erster Applaus zu hören war. »Sie sehen einen Rebstock, wie ich ihn bei Château Mouton-Rothschild im Bordelais gesehen und von allen Seiten fotografiert habe. Es ist eine detailgetreue Wiedergabe im Maßstab 1:1, die entsprechenden Fotos können Sie hier betrachten.«
Er drückte auf eine Fernbedienung, und hinter ihm warf ein Beamer Bilder des Rebstocks an die weiße Wand. Die Nachbildung war bis auf die kleinsten Verästelungen der Zweige und die minimalsten Verdickungen des Stammes perfekt. »Ich habe ihn am Tag der Lese abgelichtet, mitsamt seinen Blättern in all ihren herbstlichen Farben, den reifen Trauben, ja sogar einen verfressenen Spatz können Sie unten erkennen und zu seinen Füßen eine Rebschere.« All das spiegelte Cloizels Skulptur in allen Facetten und Details wider. Die Blätter hatte er so hauchdünn geformt, dass er sie nun mithilfe eines kleinen Ventilators in ein sachtes Schwingen versetzen konnte. Pure Poesie. Es sah unfassbar echt aus. Der Franzose spielte von einer CD Geräusche ab: Vogelgezwitscher,
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