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Die letzte Praline

Die letzte Praline

Titel: Die letzte Praline Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Wind in den Blättern, ferne Geräusche der Lesehelfer bei ihrer Arbeit, die Melodie der klackenden Rebscheren.
    »Die Weintrauben sind gleichzeitig Pralinen und lassen sich genauso pflücken wie ihre realen Vorbilder. Unter ihrer Oberfläche finden sich vier Schichten Nugat. Im Kern Nussnugat, angereichert mit feinsten Spuren von Calciumkarbonat, das für den kalkhaltigen Boden von Château Mouton-Rothschild in Pauillac steht. Es folgt Wildkräuternugat als Verkörperung der Flora, die auf diesem gedeiht, dann Weinnugat, selbstverständlich vom Mouton aus dem Jahrgang, der kurz nach den Fotoaufnahmen geerntet wurde, und schließlich Nugat mit Weingeist. Der flüchtige Geist steht dabei für die Luft. Alles ist in rot gefärbte, fünfundsechzigprozentige Bio-Arriba-Ecuador-Schokolade gehüllt, die besonders blumig-vanillig am Gaumen zergeht.« Er verbeugte sich. »Terroir. Für Sie!«
    Der Applaus war zuerst ungläubig-zurückhaltend, dann überwältigend. Selbst Adalbert war sprachlos und vergaß ganz die Abmoderation, bis ihn einer der Juroren darauf hinwies.
    »Mesdames et messieurs, Pierre Cloizel!«
    Nur noch einer war nun übrig, nur noch eine Präsentation, dann hatte die Jury die Qual der Wahl.
    Edward Macallan saß auf seiner Küchenzeile, die Arme verschränkt, die Beine baumelnd. Er pustete kurz in das von Professor Bietigheim gereichte Mikro, bevor er drei Wörter sagte: »Göttin der Lust«.
    Doch nichts dergleichen war zu sehen. Weder eine Göttin noch irgendetwas Lustvolles.
    Vor Macallan stand ein quadratisches Bassin, ungefähr zwei mal zwei Meter groß, aus Schokoladenbacksteinen errichtet, darin eine tiefrote Flüssigkeit, dem Duft nach Wein. In diesem Bassin stand eine schlichte, römische Amphore, die aussah wie tönern, aber aus Schokolade sein musste.
    Macallan klatschte einmal in die Hände, und der Bolero von Ravel ertönte.
    Plötzlich tat sich etwas im Wein. Die Amphore hob sich. Darunter erschien der Kopf einer Frau, ein kleines Atemgerät im Mund, das sie mit dem Auftauchen ausspuckte. Grazil erhob sie sich, und es wurde unübersehbar, dass sie zu einem Drittel … zur Hälfte … zu drei Vierteln … nein, komplett nackt war. Sie hatte Traummaße, und das Tuscheln hinter dem Professor verriet ihm, dass es sich um das schottische Supermodel Annie MacDonald handelte. Auf ihren Körper waren mit Schokolade Weinranken gemalt worden. Die Amphore musste auf irgendeine unsichtbare Art auf ihrem Kopf befestigt sein, denn sie bewegte sich kaum, als Annie MacDonald nun erneut in die Hocke ging und vom Boden des Bassins einen großen Hammer hervorholte, der nicht aus Schokolade, sondern aus Metall bestand.
    Sie trat aus dem Becken, holte aus – die Menge hielt den Atem an – und zerschlug die Amphore auf ihrem Kopf.
    Alles im Rhythmus der Musik. Wie Ballett.
    Die Amphore zerbrach in große Schokoladenscherben, und heraus purzelten burgunderfarbene Pralinen. Sie waren so klein und so viele, dass es für einen Moment aussah, als ströme Wein vom Kopf der Nackten.
    Macallan trat nach vorne und hob einige davon mit der Hand vom Boden auf, während das schottische Supermodel sich nach vorn beugte, wodurch die Ranken auf ihrem Rücken nun die Buchstaben E und M bildeten: Edward Macallan.
    »So, Freunde der Schoki«, raunte der Chocolatier sichtlich zufrieden ins Mikro, »jetzt verrate ich euch noch, was es mit den kleinen Dingern hier auf sich hat, weil ihr das nicht sehen könnt. Die Schokoladenhülle ist sehr dünn – kein Wunder bei dieser Größe. In den Kugeln befinden sich noch kleinere Kugeln, nämlich Weinkaviar, mithilfe der molekularen Küche erzeugt. Er hat die Konsistenz von echtem Kaviar, besteht aber komplett aus Wein. Wenn die Kügelchen im Mund aufplatzen, fließt der in ihnen eingeschlossene Wein an den Gaumen. Es ist natürlich nicht irgendein Wein, sondern ein Romanée-Conti La Tache. Und das schmeckt man. Gott sei Dank. Also, ich schenke der Welt: Göttin der Lust. Mit tausend Dank an meine gute Freundin Annie MacDonald.« Er klatschte, und auch die Menge applaudierte. Manche Münder standen immer noch offen, manche Männeraugen allerdings noch weiter.
    So waren die vom Spanier Ferran Adrià entwickelte Molekulare Küche und die Pralinenkunst nie zuvor vereint worden. Dies war etwas völlig Neues.
    Und auch die Präsentation.
    Eine Schokoladenperformance.
    »Göttin der Lust« würde in die Geschichte eingehen. Edward Macallan mit ihr. Ob als Fußnote oder als ganzes Kapitel,

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