Die letzte Praline
würde sich noch zeigen.
Nun begann die Jury mit der Verkostung der Kunstwerke und stellte ihre Fragen an die Chocolatiers. Kreuzverhör. Erst danach würden auch Publikum und Medien näher treten dürfen.
Um ihre Eindrücke auszutauschen und zu bewerten, setzte sich Adalbert mit den anderen Juroren in dem für sie bestimmten Hinterzimmer zusammen. Pit, den Schokobär, hatte er von vornherein ausgeschlossen, das Finale durfte schließlich nicht auch noch zur Zirkusveranstaltung verkommen. Die Jurymitglieder verglichen ihre Noten, neben der Kreativität wurden erneut auch Schwierigkeitsgrad und Ausführung bewertet. Ähnlich dem Turmspringen. Aber es ging auch um Komplexität, Balance und Genussfreude bei den Pralinen – wobei letzteres Kriterium sich darauf bezog, ob man mehr als eine essen wollte und konnte oder ob eine allein schon satt machte. Von einer grandiosen Praline musste man stets mehr als eine essen wollen.
Der Raum, in dem die Jury tagte, war zwar groß, aber fühlte sich doch schnell eng an, denn man war sich nicht einig. Lange wurde diskutiert, wieder und wieder abgestimmt. Die Pralinen wurden nochmals angefordert, geviertelt und verteilt. Doch weißer Rauch stieg lange nicht auf.
Schließlich gab Adalbert Bietigheims Vorsitzendenstimme den Ausschlag. So wurde er zum Königsmacher. Habemus Chocolatierweltmeister!
Doch der Sieger – oder die Siegerin – würde erst am Sonntag bekannt gegeben werden. In festlicher Garderobe, ein Streichquartett würde spielen, vor geladenen Gästen, ein Hauch Wiener Opernball. Bis dahin galt es, völliges Stillschweigen zu wahren.
Adalbert war froh, dass er noch etwas Zeit hatte.
Denn so, wie die Skulpturen der Chocolatiers Detailarbeit erforderten, so war es auch mit seiner Falle für den Mörder.
Jedes Detail musste passen.
KAPITEL 10
Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …
… es wird nie mehr, nur stetig weniger.
Pit dachte an den goldenen Herbst, der sich draußen über Flandern legte, als tupfe ein Maler goldene Farbe auf ein Gemälde. Er hielt seine Augen mittlerweile geschlossen, stellte sich vor, es wäre Licht da, wenn er sie öffnete. Doch sich zu belügen fiel ihm immer schwerer.
Irgendwann war er eingeschlafen.
Natürlich war er eingeschlafen. Und seine Finger hatten aufgehört, die Öffnung zu verschließen.
Als er aufwachte, stand ihm die Schokolade bis zum Hals. Den Zufluss unterbinden konnte er nicht mehr, zu sehr schmerzten seine Hände, seine Unterarme, seine Schultern von der langen Anstrengung.
Im Inneren des Tanks fühlte sich alles wohlig warm an, als wolle ihn der Schlaf einlullen und der Tod ihn ganz sanft zu sich holen. Doch Pit wollte noch nicht. Schweiß perlte ohne Unterlass von seiner Stirn, die Luft war dünn geworden wie gestreckte Suppe, nur noch wenig Sauerstoff befand sich in ihr, und er ertrug den Duft der Schokolade nicht mehr.
Pit hörte im Kopf sämtliche Alben von Slayer, Motörhead und Iron Maiden durch, sang jede Zeile mit, spielte jedes Solo. Und wenn er trotzdem wieder drohte einzuschlafen, würde er auch nicht davor zurückschrecken, sich die Ohrwürmer ins Gedächtnis holen, die er am meisten hasste. »Life is Life« zum Beispiel (nanaaaanaanana), das gesamte _uvre von Modern Talking (Cheri, Cheri Lady) und wenn gar nichts mehr ging: Pur. Der Hass würde ihn wach halten.
Es musste einfach sein.
Denn was würde passieren, wenn er wieder einschlief? Würde er schlafend in der Schokolade ertrinken oder vorher wach werden, weil sein Körper den unbewussten Tod nicht zuließ?
Pit wollte es nicht auf einen Versuch ankommen lassen.
Doch tief in seinem Inneren schwand die Hoffnung, mit jedem Atemzug. Am Anfang war sie ein junger Zehnkämpfer gewesen, nun ein gebrechlicher Greis. Pit wusste, er hatte nicht mehr viel Zeit. Nicht mehr viel Luft. Nicht mehr viel Kraft.
Er hatte nicht mehr viel.
Das Museum hatte geschlossen, denn morgen würde hier der Weltmeister verkündet. Nun putzte es sich heraus, wie ein Mädel vom Land, das zum Ball in die große Stadt ging – und viel zu viel Rouge auflegte. Die Stühle aus dem Saal im obersten Stock wurden alle hinausgeräumt, weil stehend mehr Besucher hineinpassten. Die Hausmeister besserten Geländer und Wände mit Farbe aus, der Putztrupp polierte alles blank.
Der Professor ging in die zweite Etage, wo Beatrice Reekmans zuletzt lebend gesehen worden war. Bisher war er stets zügig durch die Ausstellung marschiert. Die hier gezeigten Stücke mochten für
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