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Die letzte Praline

Die letzte Praline

Titel: Die letzte Praline Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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gewann, war ein gemachter Mann oder eine gemachte Frau.
    Die Medien machten Adalbert schon von Weitem aus, stürmten zu ihm, umringten und überschütteten ihn mit Fragen, wollten Stellungnahmen und Fotos. Sonst nutzte der Professor jede Chance, seinen Standpunkt wortreich darzulegen. Doch nun hieß sein Standpunkt Seriosität, nur er war schließlich noch da, um diesen zu vertreten. Und mit Stille und Ernsthaftigkeit tat er dies am besten. Mithilfe seines Regenschirms bahnte er sich durch die Meute einen Weg in die Tuchhallen und verschwand im Hinterzimmer, das für die Besprechung der internationalen Fachjury vorgesehen war. Diese bestand aus von Bietigheim persönlich ausgewählten ehemaligen Weltmeistern sowie berühmten Chocolatiers und war bereits komplett anwesend. Bevor der Professor die Modalitäten der Bewertung erläuterte, organisierte er noch ein Schälchen Wasser für Benno.
    Nach rund einer Stunde trafen die vier Finalisten ein. Der Professor schritt zum Jan Garemijnsaal, um sie dem Publikum vorzustellen. Hinter der Absperrung pressten sich die Zuschauer aneinander. Und bei mehr als einem hatte der Professor das Gefühl, er wollte nur sehen, wer wohl als Nächster den Löffel abgab.
    Die Spots gingen an, allesamt auf Adalbert gerichtet, der ohne viel Aufhebens begann.
    »Aus Bayonne, Frankreich: Pierre Cloizel.« Spot auf dessen Küchenzeile. Anerkennender Applaus.
    »Aus Bad Neuenahr, Deutschland: Vanessa Hohenhausen.« Spot und aufmunternder Applaus, einige Pfiffe junger Männer, die wohl gerne die komplette Schokoladenseite der jungen Chocolatière gesehen hätten.
    »Aus Edinburgh, Schottland: Edward Macallan.« Spot und stürmischer Applaus, Johlen, ein Dudelsack erklang, der ›Amazing Grace‹ anspielte.
    »Und schließlich aus Kópavogur, Island: Jón Gnarr.« Pfiffe und Buhrufe übertönten den Applaus. Den Belgiern gefiel es nicht, dass Gnarr anstelle von van der Elst vorne im Spotlicht stand. Bietigheim schritt ein.
    »Schämen Sie sich! Sie beschmutzen Franky van der Elsts Andenken. Er war ein fairer Sportsmann, und Sie sollten sich ein Beispiel an ihm nehmen. Jón Gnarr hat sich sicher nicht gewünscht, durch einen Todesfall ins Finale einzuziehen, doch nun wird er sein Land vertreten, wie Herr van der Elst es für Belgien getan hätte. Seien Sie so gute Gastgeber, wie Sie es bisher waren. Auch für Franky van der Elst, der seine Kollegen und Kolleginnen hier willkommen geheißen hat.« Spärlicher Applaus setzte ein, der allmählich stärker und lauter wurde, bis er schließlich ohrenbetäubend war.
    Und Jón Gnarr sichtlich unangenehm.
    Der Beifall erstarb erst, als die weißen Vorhänge vor den Finalisten zugezogen wurden. Heute war alles den Blicken entzogen – abgesehen von den Blicken einiger Aufpasser natürlich, welche die Einhaltung aller Wettbewerbsregeln überwachten. Exakt drei Stunden Zeit hatten die Chocolatiers, dann würden die Vorhänge gleichzeitig fortgezogen. Danach folgten die jeweilige Präsentation und die Begutachtung durch die Jury, welcher jeder Arbeitsschritt und jede Zutat grammgenau erklärt werden musste und die sich danach gustatorisch von der Qualität der Arbeit überzeugen würde. Mit dem Professor waren es insgesamt zwölf Juroren, wobei die Stimme des Juryvorsitzenden im Falle eines Patts den Ausschlag gab. Aufgabe der Chocolatiers war es nun, eine vollständig aus Schokolade bestehende Skulptur zu schaffen, in der mindestens achtzehn Pralinen eingearbeitet waren – entsprechend dem Jahrhundert, in dem Carl von Linné erstmals den Kakaobaum beschrieb.
    Obwohl es nun vorerst nichts zu sehen gab, blieben die meisten Zuschauer und Juroren im Saal. Nur ein paar der Jurymitglieder zogen sich in das Hinterzimmer zurück, in dem Getränke und belegte Brodjes für sie bereitstanden. Alle im Jan Garemijnsaal waren leise, lauschten den Geräuschen der hinter den Vorhängen werkelnden Finalisten, den Jauchzern des Glücks bei überwundenen Klippen, der scharf eingezogenen Luft bei schwierigen Handgriffen und den Flüchen, wenn etwas nicht gelang. Es wirkte wie ein Hörspiel, bei dem das Publikum raten konnte, welche Regung wohl von welchem Chocolatier stammte. Vanessa Hohenhausen fluchte nicht, sie sang, wahrscheinlich merkte sie es selber vor lauter Konzentration nicht. Lieder, wie Bietigheim dem Gerede um sich herum entnahm, von Frank Turner, Billy Bragg, Peter Gabriel und U2. Sagte ihm alles nichts. Aber von ihr gesungen, klangen sie äußerst angenehm.

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