Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
massiere sein Herz.«
Sie schnappte sich ein Skalpell und machte auf der linken Brustseite einen tiefen Einschnitt. Dann nahm sie von dem Assistenzarzt den Rippenspreizer aus Edelstahl entgegen, den dieser schon bereithielt, und öffnete mit einer kräftigen Bewegung den Brustkorb des Patienten. Sofort und ohne zusätzliche Anweisung plazierte eine der Schwestern einen Absauger und entfernte das austretende Blut, damit Grace freie Sicht hatte. Sie nahm sich vor, ihren Mitarbeitern später für ihre reibungslose Arbeit zu danken. Sie waren erstklassig und verdienten es, das auch gesagt zu bekommen. Dann griff Grace in den Brustkorb hinein, schob geschickt den linken Lungenflügel beiseite und steckte die Hand tiefer hinein, dem Gewebebeutel entgegen, der das Herz des Mannes enthielt.
Ihre Finger schlossen sich um etwas Hartes, Rauhes und Bitterkaltes. Sie riß die Hand mit einem zischenden Schmerzlaut zurück. Es war, als hätte sie gerade ein Stück Trockeneis angefaßt.
»Was ist?« fragte der andere Assistenzarzt.
Grace schüttelte den Kopf und hielt sich die Hand. »Ich … ich weiß nicht.«
Sie schüttelte die Hand, dann griff sie nach einem Retraktor und zog die linke Lunge zurück. Der Sauger nahm mit einem gurgelnden Laut das in der Brust des Patienten austretende Blut auf, so daß alle sehen konnten, was sich darin befand.
Grace starrte entsetzt auf das sich bietende Bild.
»Mein Gott …«, murmelte die eine Schwester, während ihre Kollegin eine Hand vor den Mund schlug, um einen Schrei zu unterdrücken.
»Himmel, was ist das?« sagte der Assistenzarzt mit weit aufgerissenen Augen.
Grace bewegte den Mund, unfähig, etwas zu sagen. Sie konnte bloß das wie eine Faust geformte Stück Metall anstarren, das sich in der Brust des Mannes befand, genau an der Stelle, wo sein Herz hätte sein sollen. Der Monitor piepte wie verrückt, dann ging der Ton in ein durchdringendes Summen über.
Der Verdächtige war tot.
11
Es wurde spät.
Etwa eine Stunde zuvor war der Ansturm auf die Notaufnahme abgeflaut, und danach waren mehr Patienten hinaus- als hineingefahren worden. Der Andrang der Hilfesuchenden hatte sich auf ein kleines Häufchen von Leuten mit geringfügigen Verletzungen reduziert, und das Wut- und Schmerzgebrüll war zu einem geduldigen Murmeln abgeschwollen. Irgendwo, ganz hinten in einem Korridor, schrie ein Säugling. Es war ein schwacher und verloren klingender Laut, der sich mit dem müden Schlaflied einer Frau vermengte.
Dafür werden wir geboren. Um zu leben und Schmerzen zu erleiden. Grace seufzte und nahm die angestoßene Tasse mit beiden Händen. Die braune Oberfläche des Kaffees geriet in wellenartige Bewegungen. Winzige kreisförmige Wellen, die ins Nichts strömten, die sich auflösten, wenn sie an die Grenzen dessen stießen, was sie gefangenhielt. Vielleicht waren sie ja alle nicht mehr als das, sich ausbreitende Kreise auf einem Teich. Vielleicht war sie verrückt, wenn sie versuchte, dagegen anzukämpfen.
»Dr. Beckett?«
Grace sah ruckartig auf. Auf dem gegenüberliegenden Stuhl saß ein Polizist mit einem beunruhigten Gesichtsausdruck. »Dr. Beckett, ich habe Ihnen eine Frage über den Verdächtigen gestellt.«
Sie blinzelte. »Ja, natürlich. Tut mir leid. Fahren Sie fort.«
»Hat der Verdächtige irgend etwas gesagt, das uns bei seiner Identifizierung helfen könnte? Hat er einen Namen erwähnt? Oder einen Ort, von dem er kam?«
Grace konzentrierte sich, dachte an das hektische Chaos in dem Traumaraum zurück und schüttelte dann den Kopf. »Ich fürchte nein. Er hat mal kurz etwas gemurmelt, aber ich konnte nichts davon verstehen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es englisch war. Es hätte etwas über Sünde oder sündigen sein können.«
Der Officer nickte und kritzelte etwas auf seinen Notizblock. »Wir werden seine Fingerabdrücke durch die Datenbänke laufen lassen, aber jede zusätzliche Information könnte dabei helfen, die Suche einzugrenzen. Hat er etwas anderes gesagt, das Sie verstehen konnten? Irgend etwas?«
Grace schüttelte erneut den Kopf. Sie sah zu, wie er noch ein paar Notizen niederschrieb. Auf dem Namensschild auf seinem blauen Uniformhemd stand Officer John Erwin. Er war mittleren Alters, mit einfühlsamen braunen Augen. Kurz nach den Geschehnissen in Traumaraum Drei waren er und ein paar weitere Polizisten eingetroffen; die beiden ursprünglich anwesenden Beamten hatten sie gerufen. Erwin hatte erklärt, daß es Standardprozedur sei, einen
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