Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
daß sie zehn Jahre ihrer Kindheit hier verbracht hatte. Aber man hatte sie nur wenige Meilen entfernt an einem Berghang gefunden: ein Kind, keine drei Jahre alt, allein, ausgesetzt. Hier hatte man ihr den christlichen Namen Grace gegeben. Dieser Ort hatte für ihren Nachnamen Beckett Pate gestanden. Und inmitten dieser Wände hatte sie das erste Mal gelernt, die Wunden anderer zu versorgen.
Der größte Teil des Heimdaches war eingestürzt, in den Fensterrahmen steckten nur noch wenige Glassplitter, die im letzten Mondlicht wie abgebrochene Zähne aussahen. Das über den Eingang genagelte Brett hatte sich auf einer Seite gelöst und war heruntergerutscht, durch die Lücke konnte man die im Schatten lauernde Haustür sehen. Ihre Oberfläche trug noch immer die blasigen Narben eines vor langer Zeit stattgefundenen Brandes. Das Gebäude war nur noch eine leere Hülle, wie die abgestreifte Haut einer Schlange – eine leere Erinnerung an das Böse, das einst in seinem Inneren gehaust hatte. Selbst nach all diesen Jahren hing ein verbrannter Geruch in der Luft. Aber das Feuer war erst am Ende ausgebrochen, und lange vor ihm waren die Rufe der Eulen ertönt und hatten Hände aus der Dunkelheit zugegriffen.
Hinter ihr ertönte eine Stimme und riß sie in die Gegenwart zurück. »Kann ich dir helfen, mein Kind?«
Grace schnappte nach Luft, wie eine Schwimmerin, die nach einem langen Untertauchen gerade wieder an die Oberfläche gekommen ist. Sie drehte sich um und blinzelte gegen den grellen Schein der Scheinwerfer an. Er stand genau vor ihr, obwohl sie ihn nicht hatte kommen hören, ein ungewöhnlich großer Mann in einem schäbigen schwarzen Anzug, der lose auf einer gekrümmten, vogelscheuchenähnlichen Gestalt hing. In der kraterübersäten Mondlandschaft seines Gesichts funkelten seine Augen wie Obsidiansplitter.
»Wer sind Sie?« flüsterte sie, aber noch während sie die Frage zögernd stellte, glaubte sie die Antwort bereits zu erahnen. Denn mit der altmodischen Kleidung und dem uralten, wissenden Blick hatte er etwas an sich, das sie an das Mädchen im Park erinnerte.
Der Mann in Schwarz tippte mit den langen Fingern an den Rand des breitkrempigen Pastorenhutes und machte eine affektierte, spöttische Verbeugung. »Der Name ist Cy«, sagte er gedehnt mit einer Stimme, die zugleich sanft und knirschend wie frisch geölter Rost war. Er streckte die Hand aus, als wollte er ihr eine Visitenkarte geben. »Bruder Cy. Verkünder des Glaubens, Verkäufer der Erlösung und Prophet der Apokalypse. Zu deinen Diensten.«
»Ich verstehe«, sagte sie atemlos, denn es handelte sich um eine Vorstellung, die man nur schwer auf Anhieb deuten konnte. Sie blickte nach unten und sah, daß ihre Hand statt der Visitenkarte nur einen zarten Schimmer Sternenlicht hielt, der ihr durch die Finger rann und verschwand. Um ihre Überraschung zu verbergen, stammelte sie ihren Namen. »Ich bin Grace. Grace Beckett.«
Bruder Cy nickte abwesend, als wüßte er es längst oder als wäre es ihm egal. Sein Blick zuckte an ihr vorbei und richtete sich auf das brüchige Gerippe des Waisenhauses. »Die Vergangenheit lastet dunkel und schwer auf diesem Ort. Fühlst du es?«
»Ja«, erwiderte sie nach einem Moment, denn sie konnte es tatsächlich fühlen.
Er strich mit knochigen Fingern über verbrannte Schindeln. »Selbst das Feuer und die Zeit können das Holz nicht dazu bringen, alles zu vergessen. Zumindest nicht ganz. Die Erinnerung an das Böse verweilt in der Maserung.«
Grace verschränkte die Arme vor der Brust. Wie konnten sie soviel über sie wissen? Diese merkwürdige Karikatur eines Predigers und das geisterhafte, puppenähnliche Mädchen?
»Wer sind Sie?« flüsterte sie erneut, diesmal nur voller Verzweiflung.
Ein zugleich furchteinflößendes und schelmisches Grinsen trat auf Bruder Cys Gesicht. »Wir sind, was wir sind, was wir schon immer gewesen sind. Wir gehen, wohin uns der Wind des Zufalls weht, und tun, was unsere Natur von uns erfordert.«
Daß seine Worte beinahe einen Sinn ergaben, war ein deutlicher Beweis für Graces seltsamen Bewußtseinszustand und für die Losgelöstheit, die sie bei allem verspürte, was sie einst für real gehalten hatte. Sie wandte ihm den Rücken zu und richtete den Blick wieder auf das Waisenhaus. »Werden wir dann niemals von der Vergangenheit frei sein?«
»Nein, mein Kind«, sagte Bruder Cy. »Wir können die Vergangenheit nicht formen, denn es ist die Vergangenheit, die uns formt, und
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