Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
und versuchte, das Summen aus seinem Kopf zu vertreiben. Die Waldluft war kalt und feucht, duftete nach Eis und Pinien. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so gute Luft eingeatmet zu haben. Einen Moment lang war er beinahe davon überzeugt, in den nördlich der Stadt befindlichen Wäldern zu sein. Beinahe. Aber als er genauer hinsah, schienen die Bäume, die er für Espen gehalten hatte, irgendwie anders zu sein. Sie sahen so aus, wie Espen aussehen sollten – aber sie waren etwas zu groß, ihre Äste breiteten sich ein Stück zu weit aus, und ihre papierähnliche Rinde schimmerte einen Hauch zu silbrig. Darüber hinaus waren die gelegentlichen, dazwischen verteilten Nadelbäume zwar so groß und gerade wie eine Kiefer, aber er konnte sich nicht daran erinnern, daß die Nadeln der Kiefern einen Stich ins Rötliche hatten. Wo war dieser Ort? Dann lichtete sich der Nebel in seinem Gehirn, und er erinnerte sich an alles. Die Erlösungsshow, Bruder Cys Worte, die Kreaturen im Licht, und schließlich …
Er fuhr herum und rechnete fest damit, sie dort schweben zu sehen, wie ein Fenster, das auf den mondhellen Highway blickte, der nördlich an Castle City vorbeiführte. Die Reklametafel. Doch hinter ihm befand sich kein schwebendes Fenster, kein Holzgerüst, das die Reklametafel von hinten stützte, es war auch nirgendwo ein Highway in Sicht. Er stolperte vorwärts und suchte verzweifelt nach jeder Seite. Sein Gehen wurde zu einem Joggen, dann zu einem überstürzten Lauf durch den Wald. Zweige peitschten in sein Gesicht, er schlug sie beiseite. Es mußte da sein. Doch alles, was er sah, waren ihm unbekannte Bäume, die sich dem Himmel entgegenreckten.
Wo auch immer sich dieser Ort befand, jedenfalls nicht in Colorado.
Schließlich blieb Travis stehen und schnappte keuchend nach Luft. In seinem Kopf drehte sich alles. Die Luft war zu schneidend, zu dünn, wie die Luft auf einem hohen Berggipfel. Er griff nach dem Stamm einer Esche – oder was auch immer das für ein Baum war –, um nicht zu schwanken.
»Nun, ich hätte nicht gedacht, beim Frühstück Gesellschaft zu haben«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Andererseits ist Gesellschaft die beste aller Überraschungen, nicht wahr? Vor allem an einem Ort, der so einsam ist wie dieser hier. Willst du nicht zu mir herüberkommen?«
Travis drehte sich verblüfft um.
Der Sprecher saß mit untergeschlagenen Beinen ein halbes Dutzend Schritte entfernt vor einem Lagerfeuer am Boden. Er war ein Mann von unbestimmbarem Alter, allerdings eher älter als jünger, denn sein dunkles, schulterlanges Haar war grau durchsetzt; Falten betonten den energischen Mund und die Augen, die die gleiche wäßrig-blaue Farbe wie der Winterhimmel über ihnen aufwiesen. Der Mann war seltsam gekleidet. Er trug ein langes Hemd aus heidegrauer Wolle, das an der Taille von einem breiten Lederband gehalten wurde, sowie eine Art enger, rehbrauner Hosen. Die Füße steckten in Lederstiefeln, und der Umhang um seine Schultern, der die Kälte abhalten sollte, hatte die Farbe von tiefem Wasser. Der Umhang wurde an seinem Hals von einer verzierten Brosche gehalten.
Der Mann erinnerte Travis an die Schauspieler des örtlichen Mittelalter-Festivals, das jeden Sommer ein paar Meilen von Castle City entfernt veranstaltet wurde. Die Angestellten kamen nach dem Schließen des Jahrmarktes oft auf einen Drink oder eine Runde Pool-Billard im Mine Shaft Saloon vorbei, noch immer in ihre anachronistischen Kostüme gekleidet, mit denen sie Adlige, Damen, Ritter und Diebe darstellten. Doch etwas an den Kleidern dieses Mannes erweckte in Travis den Eindruck, daß sie keinesfalls Teil eines Kostüms waren. Sie erschienen zu abgetragen, zu sehr von der Reise in Mitleidenschaft gezogen, zu … real.
Travis' Benommenheit wurde durch Vorsicht ersetzt. Wenn ihn die Reklametafel tatsächlich an einen anderen Ort gebracht hatte – einen Ort, der weit genug entfernt war, um seltsame Bäume zu haben –, dann konnte niemand sagen, wem er hier möglicherweise begegnete. Er musterte den Mann mißtrauisch. Er konnte ein Krimineller, ein Flüchtling, unter Umständen sogar ein Mörder sein.
Der Fremde grinste, als würde er Travis' Gedanken lesen. Seine Stimme war so volltönend wie ein Horn. »Du brauchst dir keine Sorgen machen, Freund. Ich bin mit ziemlicher Sicherheit das harmloseste Ding, dem du in diesen Wäldern begegnen wirst.« Er deutete auf das Feuer. »Dir ist kalt. Du solltest dich hinsetzen und eine
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